Fessler über den Beruf des Freimaurers: Unterschied zwischen den Versionen
Zeile 120: | Zeile 120: | ||
</poem> | </poem> | ||
+ | |||
{{RolandMueller}} | {{RolandMueller}} | ||
Zeile 126: | Zeile 127: | ||
*[[Ignaz Aurelius Feßler]] | *[[Ignaz Aurelius Feßler]] | ||
*[[Fesslers Rückblicke]] | *[[Fesslers Rückblicke]] | ||
− | |||
*[[Fessler über Selbsterkenntnis]] | *[[Fessler über Selbsterkenntnis]] | ||
*[[Fessler über sein „System“]] | *[[Fessler über sein „System“]] |
Aktuelle Version vom 26. Juli 2015, 20:16 Uhr
Der Beruf des Freymaurers
Von Ignaz Aurelius Feßler, 1798
Bearbeitet von Roland Müller
Aus:
Fessler’s sämmtliche Schriften über Freymaurerey. Bd.1, Berlin 1801, 189-216; 2. Aufl. 1805, 148-167 (mit leicht veränderter Schreibweise; nachstehend diese Version).
Der Beruf des Freymaurers muß aus dem Wesen und der Tendenz der Freymaurerey bestimmt werden.
Das Wesen der Freymaurerei besteht in dem VernunftA, in durchaus richtigen ∆∆, und in einer reinen E, als erlangte Kunstfertigkeiten betrachtet.
Eine ganze menschliche Gesellschaft, in der sämtliche Mitglieder diese Kunstfertigkeiten sich erworben hätten, stände unter keiner andern, als unter öffentlichen Tugendgesetzen, die insgesamt zwangsfrey sind; sie würde mithin ein Reich der Tugend, einen ethischen Staat, bilden. Die Idee eines solchen Reiches muß von Jedermann als ein von der Vernunft aufgestelltes Ziel betrachtet werden, zu dessen Annäherung mitzuwirken, allgemeine Menschenpflicht ist.
Weil es aber jedem Bürger des politischen gemeinen Wesens unter den öffentlichen Rechtsgesetzen völlig frey steht, ob er mit andern Mitbürgern auch noch in eine ethische Vereinigung treten, oder lieber im Naturzustande dieser Art bleiben wolle; weil es von dem guten Willen der Menschen nicht leicht erwartet werden kann , daß sie sich jemahls zu einem ethischen gemeinen Wesen insgesammt vereinigen werden, und der Begriff desselben doch immer auf das Ideal eines Ganzen aller Menschen bezogen werden muß; so bleibt die allmählige Realisirung dieser, von der Vernunft gegebenen und in der Tendenz der Freymaurerey selbst enthaltenen Idée eines ethischen Staates der eigenthümliche Entzweck der Freymaurerbrüderschaft, zu welchem jedes Mitglied in seinem Wirkungskreise und nach Massgabe seiner Kräfte hinzuwirken berufen und verpflichtet ist.
Der Beruf des freyen Maurers ist also, überall, wo er wirken kann und darf, für die Majestät der Vernunft und der Tugend zu arbeiten, und durch zweckmässige Anleitung zur Selbstthätigkeit des Verstandes, zur freyen Anwendung der Geisteskräfte, zur Erkenntniß des Wahren, Guten und Rechten der Tugend Verehrer, dem Reiche der Vernunft Bürger zuzuführen.
Die Erfüllung dieses Berufes ist nur nach gewissen Vorschriften der moralischen Klugheit möglich. Ihr erstes Wort ist; bereite deine Schritte mit Weisheit vor!
Kein Mensch glaubt es ernstlich, daß er zum Theile noch moralisch unerzogen und unmündig ist. Wir gleichen darin Alle, mehr oder weniger, einer gewissen Art Kinder, die ihre Unzufriedenheit nicht verbergen können, wenn man sie Kinder nennt, oder als Kinder behandelt. Wer sich den Menschen als Vernunft- und Sittenlehrer ankündigt, der verfehlt sicher seinen Zweck; wer aber ihre moralische Unerzogenheit und Unmündigkeit kaum zu bemerken scheint, sich gegen ihre moralischen Unarten nachsichtig bezeigt, die tändelnden Spiele ihrer sittlichen Unmündigkeit wohl gar mitmacht, und nur allmählig und unvermerkt sie zu ernsthaftern Beschäftigungen anlockt, der kann unfehlbar auf ihre Folgsamkeit rechnen: sie werden ihn, als einen angenehmen Gespielen, lieb gewinnen, werden freudig seine Hand fassen, und ihn dankbar am Ziele, als ihren weisen und klugen Wohlthäter, umarmen.
II. Wandle in gemessenen Schritten zum Ziele!
Auch in der moralischen Ordnung der Dinge sind Sprünge unnatürlich und schädlich. Alles wahrhaft Gute in dem Menschen kann nur durch seine eigene Freyheit und eigene Einsicht hervorgebracht werden. Niemand kann den Andern überzeugen; er kann ihm nur Gründe vorlegen, die der Andere erst zu seinen eigenen Gründen machen und seine Ueberzeugung darauf bauen muß. Dieß fordert Zeit und einen bestimmten Grad der entwickelten Geisteskraft.
III. Sey auf deiner Hut, damit dein Eifer für Wahrheit und Recht rein bleibe von stolzer Selbstsucht und eitler Begierde, zu glänzen!
Der verruchteste Bösewicht hat dennoch in seinem Leben einige Augenblicke, in welchen ihm sein Gewissen deutlich sagt, daß Wahrheit und Recht nie zu einem Mittel, niedrigere oder nur scheinbare Guter zu erlangen, herabgewürdigt werden dürfen. Daher auch die Empörung in unserm sittlichen Gefühle, wenn wir gewahr werden, daß ein Mensch sich als Verfechter der Wahrheit und des Rechts nur ankündiget, um seinen selbstsüchtigen Stolz zu befriedigen, oder seiner Begierde nach Glanz und Auszeichnung zu fröhnen.
IV. Laß den Menschen ihr theuerstes Eigenthum, ihre Meinungen, ihre Bilder, ihre Gebräuche, unverletzt!
Es ist ein characteristischer Zug in dem Menschen, daß er sich selbst und Andern durchaus consequent scheinen, und alles um sich her consequent, das heißt, mit seinen Meinungen übereinstimmend, machen will. Daher die Sucht in uns, Andere von ihren Meinungen abzubringen; daher die Beharrlichkeit, mit der wir unsre eigene Meinung gegen jede andere zu behaupten trachten.
In jedem Widerspruche liegt die vom Stolze erzeugte Furcht, vor sich selbst und vor Andern inconsequent zu scheinen, zum Grunde. — Die Bilder und Gebräuche, an die wir entweder religiöse, oder moralische, oder politische Ideen anknüpfen, sind größtentheils Sache unsres Geschmackes, der Geschmack das Erzeugniß unsrer Urtheilskraft; wer unsere Bilder und Gebräuche angreift, tadelt unsern Geschmack, und zieht dadurch die Richtigkeit unsrer Urtheilskraft in Zweifel, das heißt, ergreift unsern Stolz gerade von der empfindlichsten Seite an, mit dem es doch derjenige nie ganz verderben muß, der moralisch wohlthätig auf uns wirken will.
V. Führe allmählig und unvermerkt ihre Meinungen auf Grundsätze zurück!
Eben der Trieb des Menschen, durchaus consequent seyn oder scheinen zu wollen, worauf sich die Beharrlichkeit auf seinen irrigen Meinungen gründet, verschafft auch den Mitteln Eingang, durch welche der Mensch davon abgebracht werden kann. Eine irrige Meinung ist ein Vorurtheil, welches entweder auf Auctorität beruhet, oder aus einseitigen Gründen festgehalten wird.
Man lasse dem Irrenden die Meinung, man respectire sie; aber man suche nur der Auctorität ihr Gewicht unvermerkt zu nehmen , oder sie zweifelhaft zu machen, so wird die stolze Furcht vor Inconsequenz nun selbstgegen das festgehaltene Vorurtheil auftreten, dasselbe bestreiten und, bey geringer Nachhülfe von aussen, überwinden. — Oder, ohne die Meinung anzugreifen, zeige man die Einseitigkeit der Gründe, auf welche sie sich stützt, recht deutlich, so wird die hervorgehende Inconsequenz auch in diesem Falle in der Seele des Irrenden bewirken, was sonst die scharfsinnigste Beredsamkeit nicht vermocht hätte.
VI. Lehre sie, ihren Bildern einen erhabenern Sinn unterlegen!
Ein Beyspiel wird diese Vorschrift deutlicher machen. Die Wunden des von Gott gesandten Menschenlehrers sind für viele tausend gutmüthige Menschen ein sehr heiliges, herzerhebendes, begeisterndes Bild. Zeigte Einer aus ihnen dem menschenfreundlichen, mit seinem Berufe bekannten Freymaurer dieselben als den Zufluchtsort der sündigen Seele, oder als die Urkunde der Aussöhnung des erzürnten Gottes mit dem Menschengeschlechte, so würde Dieser weder das Wundenbild seines schwächern Bruders, noch die religiösen Idéen, die er daran knüpft, tadeln, sondern nur hinzusetzen, daß der Anblick dieser Wunden noch herzerhebender und begeisternder werde, wenn man sie als Siegeszeichen des grossen Menschenlehrers betrachte, welche er in dem entschlossenen Kampfe für Wahrheit und Vernunftherrschaft gegen Priesterbetrug und Aberglauben davon getragen hat: oder, wenn man sie als die unfehlbarste Urkunde der Menschenwürde betrachte, die in der freywilligen Aufopferung des erhabensten Weisen zum Tode für Wahrheit im herrlichsten Lichte dargestellt wird.
Und so wird der aufrichtige und kluge Menschenfreund tausend Gelegenheiten finden, seinen unmündigem Brüdern in ihren schwärmerischen Bildern einen erhabenem Sinn zu zeigen, und ihnen denselben so unterzuschieben, als hätten sie ihn durch ihr eigenes Nachdenken gefunden.
VII. Lenke ihre Gebräuche zu einem höhern Zwecke!
Einseitige Religionsbegriffe, Verhältnisse und eine Menge anderer Rücksichten machen vielen gutmüthigen Menschen so manche äussere gottesdienstliche Uebung zu einem dringenden Herzensbedürfniße, oder zu einem unerlässlichen Haus - und Familiengebrauche. Verzeihung der Sünden, Erlangung der Gnade Gottes, Stärkung zum ewigen Leben sind gewöhnlich die religiösen Idéen, die mit diesen Uebungen verbunden werden. Es liegen also denselben eigennützige Zwecke zum Grunde. — Setzen wir nun: ein übrigens unverdorbener, unbefangener, das Gute ernstlich wollender Mensch, den der Maurer zur Vernünftigkeit und höhern Motilität bilden, wollte, verlangte dessen Theilnahme an einer gottesdienstlichen Uebung; so wird er seinen unmündigem Bruder weder von derselben zurückhalten, noch ihm seine Theilnehmung verweigern, ob er ihm gleich über die Bestimmungsgründe seines Betragens alles mögliche Licht ertheilen wird.
„Ich verehre deinen Kirchengebrauch,“ wird er ihm sagen, „ich will ihn auch mit dir feyern; denn es ist die Pflicht des vernünftigen Mannes und des redlichen Menschenfreundes, durch Ehrfurcht, und bisweilen auch durch sein eigenes Beyspiel, den Kirchenglauben und den damit verbundenen äussern Gottesdienst aufrecht zu erhalten.
Nun gehören aber gewisse äusserliche Handlungen und symbolische Gebräuche dergestalt zur Natur eines kirchlichen Gottesdienstes, daß er ohne dieselben schlechterdings nicht bestehen kann. Aus diesem Gesichtspuncte betrachte ich die gottesdienstliche Uebung, zu der du mich aufforderst, und werde dich mit der aufrichtigsten Theilnahme meines„ Geistes und Herzens dazu begleiten, einmahl, um die Ehrwürdigkeit des Kirchenglaubens und des Gottesdienstes ,durch mein Beyspiel zu bestätigen, und dann, um mich des Zustandes, da ich selbst noch in diesem Helldunkel zwischen moralischer Unwissenheit und dem hellem Vernunftlichte wandelte, zu erinnern, und dadurch gegen meine noch unmündigen Brüder nachsichtiger und schonender zu werden." —
Der gute Mann, den der Maurer, mit Darlegung dieser Gesinnungen und Zwecke, zur gottesdienstlichen Handlung begleitet, wird gewiß nicht nur sehr tolerant sich gegen denselben bezeigen, sondern sich auch über seine Schonung freuen, und wenigstens anfangen, an der durch kirchliche Gebräuche zu erlangenden Sündenverzeihung, Gnade und Stärkung zum ewigen Leben zu zweifeln; und der erste Zweifel an der Zulänglichkeit des Kirchenglaubens und des Gottesdienstes ist der erste Schritt zum Vernunftglauben und zur Religion: er wird kein Glaubensspötter, kein Kirchenverächter, kein Gottesläugner werden, sondern zu einem schonenden Menschenfreunde und treuen Bürger im Reiche Gottes, das ist, im Reiche der Vernunft, sich emporschwingen.
VIII. Ueberschreite in deinem Wirken die Ordnung nicht, welche der Natur des Menschen angemessen ist!
Alles Fortschreiten zur Vernunftmässigkeit und höhern Moralität kann nur durch folgende Stufen geschehen.
— Die unterste ist die der verständigen Selbstsucht. Der auf derselben schwankende Mensch kann nach keiner andern Vorschrift handeln, als nach der: bezwecke in allem, was du thust, deine Ruhe, Zufriedenheit und Glückseligkeit!
— Die zweyte Stufe ist die des Gemeinsinnes, und die auf derselben bestimmende Vorschrift ist: in allem, was du thust, bezwecke, mit Unterdrückung deiner selbstsüchtigen Neigungen, nur das, was allgemein nützlich ist!
— Auf der dritten Stufe handelt der Mensch schon mehr aus Erkenntniß dessen, was Recht ist. Recht ist das, was dem Sittengesetze nicht widerstreitet. Das Sittengesetz ist also hier die Richtschnur aller Wirksamkeit; die eigene und allgemeine Wohlfahrt wird hier nicht mehr als Zweck, sondern, als gewisse Folge. der gesetzmässigen Handlungsweise angesehen.
--Die vierte Stufe ist die der moralischen Reife, oder der völligen Vernunftmässigkeit, auf welcher der Mensch nur aus Erkenntniß dessen, was gut ist, und weil es gut ist, handelt. Gut ist das, was mit dem Gesetze übereinstimmt und lediglich aus Achtung gegen das Gesetz geschieht, oder alles, wodurch das Gesetz erfüllt wird, nicht weil es Vortheile bringt, sondern weil es Gesetz, weil es Vorschrift unsrer veredelten vernünftigen Natur ist.
Man kann die ersten beyden Stufen die Stufen der Verständigkeit nennen, weil auf denselben der Werth oder Unwerth der Handlungen bloß nach den Folgen abgemessen wird; die beyden letztem würden demnach die Stufen der Vernünftigkeit heissen, weil auf denselben der Werth oder Unwerth der Handlungen nicht aus den Folgen, sondern aus der vorausgegangenen Vernunfterkenntniß dessen, was recht und gut ist, bestimmt wird.
So unwichtig etwa diese Unterscheidung im Allgemeinen scheinen könnte, so nothwendig ist sie dem thätigen Maurer, der seinen erhabenen Beruf erfüllen soll. Er muß die Ordnung kennen und stets vor Augen haben, die der Natur des Menschen angemessen ist, und nach welcher der Mensch sicher zu seiner höhern Bestimmung geleitet werden kann.
Frage sich doch Jeder selbst, welcher der vierten Stufe nahe zu seyn glaubt, wie er dahin gekommen ist; und sein eigenes Bewußtseyn wird ihm sagen, daß er mit verfeinerter Selbstsucht anfing, dann nach Gemeinnützigkeit strebte, hernach mehr auf die innere Rechtmässigkeit seiner Handlungen, als auf die Folgen, sah, und endlich nur reine Güte sich zum Ziele seiner Wirksamkeit setzte.
IX. Wirke mit Resignation auf den Erfolg!
Wer seinem Bruder die Binde des Irrthums und der Unwissenheit mit Gewalt von den Augen reißt, wer ihm Wahrheit und Licht aufdringet, der sucht sich selbst, nicht das Gute, dem ist es um Anhänger und Bewunderer, nicht um die Würde und Majestät der Vernunft und der Wahrheit, zu thun. Von jeher haben die Aufklärer, das heißt, Menschen, die Jedem, der nicht läugnen will, was sie läugnen, das Messer des Spottes und der Verachtung ari die Kehle setzen, der guten Sache der Vernunft mehr geschadet, als die Obscuranten. Die Verfolgungen und Edicte der Letztern haben die Denkkraft des Menschen mehr geweckt, als unterdrückt; aber das Geschrey der Erstem hat Zauberformeln in Umlauf gebracht, welche die Denkkraft einschläfern, und die Menschen glauben machen, sie besässen schon, was nur durch die rastlose Anstrengung aller Geisteskräfte erlangt werden kann, und wahrlich! in etwas Höherm, als in der Fertigkeit, besteht, womit man gewisser Vorurtheile spottet und erhabnere Wahrheiten wegläugnet.
Läßt sich der thätige Maurer in Erfüllung seines Berufes durch diese Vorschriften der moralischen Klugheit leiten, so ist der Erfolg seiner Wirksamkeit überall gewiß, wo noch nicht alle Empfänglichkeit für Erkenntniß und Achtung des Guten und Edlen erstorben ist.
X. Der Beruf des freyen Maurers ist allgemein, und kann von Jedem vollständig erfüllt werden.
Er hat mit einem einzigen Feinde, mit der Geistesträgheit, in sich und Andern zu kämpfen; ist dieser besiegt, so steht ihm und den Seinigen das ganze. Gebiet des Vernunftreiches aufgeschlossen.
Die Geistesträgheit hat den Verstand der meisten Menschen mit dem schädlichen Vorurtheil oder dem verderblichen Glauben an eine ursprüngliche Verschiedenheit der Seelenkräfte angesteckt. Die geistigen Anlagen sind in allen Menschen gleich; nur die Entwicklung derselben zu Kräften, und die Richtungen, welche diese nehmen, sind verschieden und mannigfaltig Diese Verschiedenheit hat oft in der mangelhaften Organisation, oft in der frühem Erziehung, oft in dem Mangel an Gelegenheit, am öftersten aber in einer selbst verschuldeten Schlaffheit des Geistes, ihren Grund.
Der mit seinem Berufe bekannte und ihn achtende Freymaurer sage doch nicht, die wenigsten Menschen besässen Talente genug, um über alles, was der Mensch, als vernünftiges Wesen, als Mitglied eines moralischen Reiches, thun soll, thun darf und in einem künftigen Zustande erwarten kann, richtige und vollständige Erkenntnisse zu erlangen, so lange sie ihre Talente nicht versucht, ihre Kräfte su diesem Zwecke noch nicht angestrengt haben! Man lasse sich doch nicht mit dem Vorwande des Zeitmangels zur Entwicklung und Ausbildung der Geisteskräfte hintergehen, so lange die Menschen noch Zeit genug finden, sich der Neigung zum Spiele und mehrern andern unwürdigen Tändeleyen zu überlassen! Weder der eine, noch der andere Vorwand wird den wahren Maurer täuschen,; er kennt die Quelle zu gut, aus welcher beyde fliessen, und er weiß, was es ihn selbst gekostet hat, um das zu werden,. was er sich in den ruhigen und ernsten, Stunden der Selbstbeschauung zu seyn scheint. Er wird daher auch unermüdet fortfahren, die tief eingewurzelte Geistesträgheit überall zu bekämpfen.
Zwey unverkennbare Merkmahle, Zeitverschwendung und Anhänglichkeit an Auctorität, verrathen allenthalben ihre Herrschaft; und der Maurer hat den wichtigsten Theil seines Berufes erfüllt, wenn er die ihm Angehörigen, durch Familienverhältnisse, durch Freundschaft, durch Geschäfte, oder durch Dienste mit ihm Verbundenen zu einem gewissenhaften Gebrauche der Zeit und zur Selbstthätigkeit des Verstandes geleitet hat. Wer heute machen könnte, daß alle Menschen die Zeit zweckmässig anwendeten, und selbst dächten, selbst prüften und urtheilten, der würde heute noch das Chaos der verständigen Welt, wo nichts auf seinem rechten Platze zu seyn scheint, in ein Reich der Ordnung und Harmonie umgeschaffen haben.
Allein, dem weisen Plane des obersten Weltregierers gemäß, soll alles Gute nicht durch Zauberschläge, sondern allmählig und durch die immer fortstrebenden Kräfte des Menschen, realisirt werden. Zur Mitwirkung, nicht zur Verkehrung des erhabnen Planes, ist jeder Freymaurer berufen; und wie mannigfaltig sind die Gelegenheiten zu dieser Mitwirkung, wenn Jeder nur ernstlich will!
Keiner lebt so isolirt, daß er nicht in und auf einen bestimmten, engern oder weitern, Kreis wirken könnte, da seine ganze Wirksamkeit lediglich nur auf weisen Gebrauch der Zeit und auf Erweckung der Geisteskräfte zur Selbstthätigkeit zielen darf. Er zeige durch sein Beyspiel und durch feste männliche Erklärungen seine Verachtung gegen jede Art von Zeitverschwendung, gegen jede blinde Anhänglichkeit an Auctorität, und gegen alles, was einer Nachbeterey gleich sieht.
Er bezeuge dem fleissigen, thätigen Manne d dem Selbstdenker seine vorzügliche Achtung; er halte seine Untergebenen oder Vertrauten, anfänglich durch einige lockende Vortheile, in der Folge durch Vorhaltung der Pflicht, selbst in geschäfts- und dienstfreven Stunden, zu nützlichen Beschäftigungen an; er verschaffe ihnen Gelegenheit zur Entwickelung und Ausbildung ihrer Geisteskräfte, einerseits dadurch, daß er sie den Mangel dieser Enwickelung und Ausbildung auf eine sanfte Art fühlen läßt, andrerseits dadurch, daß er ihre auf Auctorität angenommenen Grundsätze, nach den oben angeführten Vorschriften, unvermerkt untergräbt, und sie zum Selbstdenken, zum eigenen Prüfen und eigenen Urtheilen anreizt.
Oft braucht es nicht mehr, als eine vertraute Unterredung über practische Wahrheiten, oder die Mittheilung einer merkwürdigen Stelle aus einem gehaltvollen Buche, um in manchen unverdorbenen Menschen die schlummernden Kräfte zu erwecken , und ihn ganz umzuschaffen; und man kann mit gewissem Erfolge alle Welt unterrichten, wenn man genug Selbstverläugnung besitzt, um auf die Superiorität und das Ansehen des Lehrers Verzicht zu leisten.
XI. In der Erfüllung des maurerischen Berufes besteht die eigentliche, wahre, maurerische Wohlthätigkeit, welche allein reine und bleibende Dankbarkeil begründet.
Der Mensch kann in Ansehung seines Zustandes in doppelter Rücksicht betrachtet werden; einmahl als Bürger dieser Sinnenwelt, und dann als Candidat der Unsterblichkeit: in beyden Rücksichten bedarf er der Wohlthätigkeit seiner Mitmenschen; Daraus entspringt eine doppelte Art von Wohlthätigkeit, eine leibliche und eine geistige; eine Wohlthätigkeit zum Wohlstande des Menschen in dieser Sinnenwelt, und eine Wohlthätigkeit zur Würde des Menschen in dem moralischen Vernunftreiche.
Der Zustand des Menschen in dieser Sinnenwelt ist zeitig, äusserlich und vorübergehend; der Zustand des Menschen im moralischen Vernunftreiche ist innerlich, bleibend und unvergänglich. Daraus folgt, daß das Dankgefühl, welches geistige, das ist, bleibende und unvergängliche Wohlthaten erwecken, weit edlerer und erhabnerer Art seyn müsse, als das durch leibliche Wohlthaten erzeugte Gefühl der Dankbarkeit.
Wir erkennen uns dem Wohlthäter, der uns zu einem einträglichen Amte geholfen, oder durch seine Glücksgüter uns aus einer bedrängten Lage gerissen hat, für verbindlich, und wir gedenken seiner bey jedem Lebensgenusse, als unsres Retters; wir zeigen uns bey jeder Gelegenheit bereitwillig, seine Wohlthätigkeit durch ähnliche Dienste und Aufopferungen zu erwiedern; aber damit ist auch unsre ganze Schuld abgetragen, und in dem Augenblicke unsrer Heimfahrt sind die Folgen seiner Wohlthätigkeit für uns und das Gefühl unsrer Verbindlichkeit für ihn verschwunden.
Aber ganz anders ist unser Verhältniß gegen den Mann, dem wir den ersten Anstoß zur Selbstthätigkeit unserer Kräfte, dem wir die Grundlage unsres moralischen Werthes, dem wir die Urkunde unsres Ranges in dem ewigen Vernunftreiche zu verdanken haben. Er hat uns nichts von seinem zufälligen Glücke gegeben; was wir von ihm empfingen, ging aus seinem edelsten Selbst aus; seine Wirkung dauert durch ihre Folgen ewig in und mit uns fort. Wir können nie mehr unsre erlangte moralische Würde beschauen, ohne zugleich seine eigene zu erkennen, durch welche er der Vater unsres geistigen und moralischen Lebens ward. Wir können nie mehr das Gefühl der Selbstachtung; empfinden, ohne zugleich unsre Achtung auf ihn zu beziehen. Die Früchte seiner Wohlthätigkeit sind eben so unvergänglich, als unser Geist, und mit diesem lebt unsre Dankbarkeit für ihn fort.
Man wende nun einen Blick in die Seele des leiblichen und geistigen Wohlthäters! — Ein gutes Selbstbewußtseyn ist unstreitig die angenehmste Würze des menschlichen Lebens. Er ist sich bewußt, durch seine Verbindungen, durch seine Dienste, oder durch seine Glücksgüter, Jemanden glücklich gemacht oder gerettet zu haben. Dieses Bewußtseyn hat allerdings viel Edles und Beseligendes für sein Herz; aber seine Verbindungen und seine Glücksgüter sind etwas Zufälliges, sind nicht die unmittelbare Wirkung seiner moralischen Kraft, sind nichts ewig ihm Anhängendes und Bleibendes. Er hat Gutes gespendet aus seinem Schatze, der vielleicht morgen, und gewiß nach hundert Jahren, nicht mehr in seiner Gewalt ist.
Wie ganz anders ist sein Bewußtseyn beschaffen, wenn er sich sagen kann:
„du hast dich durch die Selbstthätigkeit deiner Geisteskräfte fähig und durch deinen guten und rechtschaffenen Willen würdig gemacht, auf den Geist und das Herz deiner Nebenmenschen, das ist, auf eine ewig fortdauernde moralische Welt, hinüberzuwirken; du hast das Reich der Vernunft durch einen Bürger vermehrt, dessen erweckte Thätigkeit wieder zehn Andere deiner Nebenmenschen zu diesem erhabnen Range befördern wird.
Was du gethan hast, ist die unmittelbare und bleibende Wirkung deiner eigenen moralischen Kraft; du hast dich dadurch zum Schöpfer eines neuen moralischen Wesens gemacht. Deine Wohlthätigkeit ist nicht demüthigend für den Empfänger, wie die Wohlthätigkeit des leiblichen Wohlthäters; sie erhebt den Empfänger, und reißt ihn zur Liebe und Achtung gegen dich hin."
— Dieses beseligende Bewußtseyn, die eigentliche, wahre, maurerische Wohlthätigkeit ausgeübt zu haben, ist zugleich die grosse Belohnung des Maurers, der Einsichten genug hat, seinen Beruf zu erkennen, und Willen genug, ihn mit Anstrengung aller seiner Kräfte und mit Benutzung jeder Gelegenheit zu erfüllen.
- Ausgearbeitet von Dr. phil. Roland Müller, Switzerland / Copyright © by Mueller Science 2001-2015 / All rights reserved - ESOTERIK von Dr. phil. Roland Müller