August Horneffer - Die Freimaurerei: Unterschied zwischen den Versionen
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Aktuelle Version vom 15. Januar 2022, 17:32 Uhr
Inhaltsverzeichnis
Die Freimaurerei
August Horneffer, August 1948
(Anmerkung: Obwohl für den Profanen geschrieben, ist dieser Beitrag für den Bruder Freimaurer wertvoll zu lesen.)
Die Entstehung der Freimaurerei
Die Freimaurerei hat von jeher die Neugierde der Menschen erregt. Schon der Name ist auffallend. Man denkt dabei an einen Handwerkerverband oder eine Künstlergewerkschaft; die Freimaurerei ist aber ein geistig-geselliger Bund. Das deutsche Wort Freimaurer ist eine Übersetzung des englischen Wortes Freemason. Das bezeichnet einen Steinmetzen und auch einen Architekten, auf jeden Fall also einen Angehörigen des Baugewerbes. Mit dem Baugewerbe hat aber der Freimaurerbund nichts zu tun; in ihm sind Männer aller Berufe zu einer Brüderschaft zusammengeschlossen.
Eine Brüderschaft also aus Angehörigen verschiedener Stände ist die Freimaurerei. Fragt man nun nach dem Wesen dieser Brüderschaft, so ist die Antwort freilich nicht mit zwei Worten zu erteilen. Die Freimaurer selber haben sich nur dunkel und vieldeutig über ihren Bund ausgesprochen, falls sie es nicht vorgezogen haben, sich ganz auszuschweigen. Infolgedessen hat man denn auch dem Freimaurerbunde die verschiedenartigsten Ziele angedichtet, hat ihn für alle möglichen Übelstände verantwortlich gemacht, und in unseren Tagen noch haben wir es erleben müssen, daß die Freimaurerlogen mit Gewalt unterdrückt, ihre Archive und Geräte vernichtet, ihre Mitglieder als Staatsverräter, zum mindesten als politisch unzuverlässig verfolgt worden sind. Dabei haben die Freimaurer, wenn sie auch von den wirklichen Zielen ihrer Brüderschaft nicht viel und nicht deutlich reden wollten oder konnten, immer wieder versichert, daß sie sich grundsätzlich nicht in politische Angelegenheiten einmischen, ebensowenig wie in religiöse Streitigkeiten.
Aber was treiben denn nun die Freimaurer eigentlich?
Eine politische Partei zu bilden, lehnen sie ebenso energisch ab wie eine religiöse Sekte. Eine Berufs- und Standesvertretung wollen sie auch nicht sein. Was für ein Betätigungsfeld bleibt aber einer ernst zu nehmenden Männergesellschaft übrig, wenn sie ausdrücklich erklärt, sie befasse sich nicht mit Angelegenheiten des Staates, der Kirche und des Berufes? Wir wollen versuchen, diese Fragen an der Hand der Geschichte zu beantworten.
Wie ist die Freimaurerei entstanden?
Mit wissenschaftlicher Bestimmtheit läßt sich der Vorgang der Entstehung bei dem heutigen Stande der Forschung nicht feststellen und die Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß das Dunkel, das über den ersten Schritten der Maurerbrüderschaft liegt, niemals gänzlich gelichtet werden wird. Die zahlreichen Überlieferungen, die sich im Bunde erhallen haben, und die fleißigen Forschungen, die seit über hundert Jahren angestellt werden, haben zwar die Ereignisse als solche ziemlich klar ans Licht gebracht, nicht so, klar aber die innere Bedeutung, der Ereignisse und die Absichten der beteiligten Männer.
Am 24. Juni 1717, am Tage Johannis des Täufers, wo die Sonne am höchsten und der Schatten am kürzesten ist, traten in London, der Hauptstadt des zu jener Zeit freiesten und zukunftsreichsten Landes, vier Logen zusammen und wählten einen Großmeister. Damit hatten sie die erste freimaurerische Großloge ins Leben gerufen und den Grund zu dem noch heute von den Freimaurern jährlich gefeierten Johannis- oder Rosenfest gelegt. Es begannen nun regelmäßige Versammlungen und es wurde unter Mitwirkung einiger geistig bedeutender Persönlichkeiten, deren Namen wir kennen, an der Ausgestaltung des Bundes gearbeitet.
Wenn wir fragen: was wollte dieser Bund? zu welchem Zweck wurde er geschaffen? - so müssen wir zunächst versuchen, den Charakter der Logen, durch deren Zusammentritt er zustande kam, näher zu bestimmen.
Nicht aus einzelnen Männern, die sich zu seiner Gründung erst zusammenschlossen, sondern aus Vereinigungen, die schon bestanden, ging er hervor. Die Logen waren, wie uns glaubhaft berichtet wird, Überbleibsel der Werkgenossenschaften, in denen sich die Steinmetzen und Maurer seit Jahrhunderten, sicher seit dem späteren Mittelalter, zunftmäßig verbrüdert hatten, in der Weise der übrigen Gewerke. Diese Gewerkschaften genossen staatliche Anerkennung und verfolgten in erster Linie wirtschaftliche Absichten. Daneben pflegten sie auch treue Freundschaftsgesinnung und suchten ihre Mitglieder sittlich zu heben, und religiös zu wecken. Außer den Berufsgenossen schlossen sich ihnen auch Männer anderer Stände an, insbesondere Geistliche und Adlige. Jene waren die Berater und Vertreter in geistlichen und geistigen Dingen - die Bildung war damals noch nicht so verbreitet wie heute und lag hauptsächlich in Händen der Gottesgelehrten -; diese übernahmen die äußere Protektion und Förderung. Aber in die Londoner Logen hatten auch Männer anderer Art Eingang gesucht und gefunden, ohne daß wir recht wissen, was diese "Liebhaber der Kunst" eigentlich in den Baufachvereinen gewollt haben.
So berichtet z. B. der damals berühmte Altertumsforscher und Okkultist Elias Ashmole (1617-1692) in seinem Tagebuch, daß er sich in die Brüderschaft der Freimaurer habe aufnehmen lassen.
Warum wohl? Was zog ihn an? Was trieben diese Logen Besonderes? -
Darüber lassen sich nur Vermutungen anstellen. Wir wissen nur soviel, daß sie bei der Aufnahme und bei den gemeinsamen Mahlzeiten gewisse Bräuche übten, die teils von den Handwerksverrichtungen und Zunftsitten übernommen waren, teils den Bundesformen uralter Zeiten verwandt waren. Hierüber beobachteten sie und verlangten sie von den Neueintretenden Stillschweigen. Womit sie sich außerdem beschäftigten, steht nicht fest. Einige meinten, sie trieben geheime Künste und Wissenschaften, also Alchemie, Magie, Astrologie, Theosophie, die in jener Zeit so viele Geister und geistige Genossenschaften in ihrem Bann hielten; andere meinten, sie beteiligten sich an den politischen Revolutionswirren, die das englische Volk im siebzehnten und z. T. noch im achtzehnten Jahrhundert durchzumachen hatte; andere sagten, sie huldigten den naturwissenschaftlichen Forschungen und freigeistigen Theorien, die damals aufkamen und in England ihren Hauptherd besaßen. Was ist daran wahr? Alles dies ist nicht nur behauptet, sondern von den Forschern auch mit mehr oder weniger guten Gründen belegt worden, ohne daß bisher ein strenger Nachweis gelungen wäre.
Ein Umstand scheint in der Tat darauf hinzudeuten, daß sich hinter jenen Logen mehr verbarg als eine trauliche, durch gemütvolle Bräuche gewürzte Geselligkeit, daß als jene gebildeten Männer, die sich mit den Handwerkern zusammenschlossen, dort geistige Nahrung fanden -: das ist die strenge Geheimhaltung, deren sich die Logen befleißigten. Jedem wurde ein Eid abgenommen, der Verrat und Schwatzhaftigkeit mit den furchtbarsten Strafen bedrohte.
Wozu das, wenn man nichts der Rede Wertes zu verheimlichen hatte?
Man verlangt und leistet dach nicht eidliche Gelübde bloß um eines angenehmen Vereinslebens willen. Für die Zunftleute der älteren Zeit hatte die Geheimhaltung einen durchaus realen Sinn und Wort gehabt: die technischen Verfahren und Kenntnisse wurden einst als Geheimnisse behandelt, die im geschlossenen Kreise der Kunstangehörigen verwahrt und den Neulingen feierlich mitgeteilt wurden. Aber um solche technische Geheimnisse konnte es sich jetzt nicht mehr handeln.
Was kümmerte die Männer aller Stände die Kunst des Gewölbebaues und der rechte Gebrauch der Meßwerkzeuge?
Vielleicht hilft uns die Zunftlegende auf die Spur. Es sind von den freimaurerischen Forschern alte Handschriften (Constitutiones genannt) in großer Zahl an verschiedenen Orten Englands, die anscheinend zum Gebrauche der Logen gedient haben und die uns daher Aufschluß über Absicht und Wesen derselben geben müssen. Einige dieser Handschriften reichen bis ins fünfzehnte Jahrhundert zurück, andere gehören dem sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert an. Ihr Inhalt ist eine sagenhafte Geschichte der Baukunst oder vielmehr aller "sieben freien Wissenschaften", unter denen die Geometrie als höchste und edelste gepriesen wird. In diese Geschichte sind moralische Regeln und Gebote eingeflochten. In naiv lehrhaftem Tone wird uns erzählt, daß die ältesten Personen der Bibel schon die Wissenschaften erfunden und getrieben hätten. Vor der Sündflut habe man sie in zwei Säulen eingegraben und für die Nachkommen gerettet. Hermes und Nimrod, Abraham und sein Schüler Euklides hätten sich in diesen Wissenschaften praktisch und theoretisch hervorgetan und sie weiter verbreitet. Mit ihrer Hilfe, insbesondere mit Hilfe der Geometrie, habe dann Salomo den herrlichen Tempel das unvergleichliche Wunderwerk, erbaut, und endlich seien durch mancherlei Schicksale und Mittelspersonen die edlen Wissenschaften auch nach England gekommen. Hier seien König Athelstan und sein Sohn Edwin die vorzüglichsten Beschützer und , Förderer der Kunst gewesen. Dieser König habe auch regelmäßige Versammlungen der Baukünstler eingerichtet und ihnen Gesetze gegeben. Schon jene älteren Lehrer und Schützer hätten ähnliche Gesetze oder „Pflichten“ (Charges) aufgestellt, z. B. Nimrod bei Erbauung des babylonischen Turmes, Euklides bei der Leitung des ägyptischen Bauwesens, Salomo bei der Herstellung seines Tempels. Diese Pflichten handeln von dem Verhalten, das die Zunftleute gegen Gott und die Kirche, gegen König und Genossen zu beobachten haben, ferner von dem Verhalten hei der Arbeit, von der Wahrung des Geheimnisses, von der Treue gegen den Meister, von der Ehrbarkeit und Rechtschaffenheit. - In Einzelheiten weichen die Zunftgeschichten und Pflichten in den verschiedenen Handschriften voneinander ab (Näheres bei Begeman: Vorgeschichte und Anfänge Freimaurerei in England Band I. 1909, Wolfstieg: Werden und Wesen der Freimaurerei, 1920 -- 1922.), im ganzen kommen sie auf dasselbe hinaus. Mit der historischen Wahrheit stehen sie in völligem Widerspruch.
Was lehrt uns diese Legende über die Logen, in denen sie ausgebildet, geschätzt und den Neueintretenden vorgetragen wurde?
Offenbar gibt sie uns mehr Rätsel auf, als sie löst. Einige sagen, die Zunftlegende gehöre in die Reihe der zahlreichen legendären Entstehungsgeschichten, durch welche die Gilden und Zünfte des Mittelalters ihren Gewerben ein ehrwürdiges Alter und ein hohes, gleichsam religiöses Ansehen zu geben wünschten. Die guten und frommen Werkleute liebten es in jenen Zeiten, den Ursprung ihrer Kunst und womöglich auch ihres Zunftvereins aus der Bibel herzuleiten. Man will also in dem Umstand, daß die Logen bis ins achtzehnte Jahrhundert hinein diese Legende beibehielten und durch Hinzufügung angeblicher Beweise aus der Profangeschichte erweiterten, den Beweis erblicken, daß in den Logen unmöglich ein tieferes geistiges Streben geherrscht habe und überhaupt nichts Ernstes und Großes getrieben worden sein kann. Wer sich an derartigen Sagen vergnüge und sie samt den schlichten Moralsätzen als wertvolle Geheimnisse an die Nachkommen forterbe, müsse geistig recht genügsam sein und den Bund als einen harmlosen Geselligkeitsverein auffassen. Andere Forscher (Vgl. Ludwig Keller: Die geistigen Grundlagen der Freimaurerei und das öffentliche Leben, 2. Aufl. mit Einl. von A. Horneffer. 1922) wollen umgekehrt aus dieser Zunftlegende gerade den Schluß ziehen, daß die Männer, die in den Logen des siebzehnten Jahrhunderts die Führung hatten, verborgene Absichten und besondere Gedanken gehegt haben müßten. Denn es sei ganz deutlich, daß sie die Zunftlegende und ebenso das aus dem Handwerk entlehnte Brauchtum symbolisch verstanden und ins Geistige umgedeutet hätten. Als Gewand, als verhüllender Mantel als äußere Form habe ihnen das Handwerk mit seinen Sitten und Überlieferungen. In Wirklichkeit habe ihnen etwas ganz anderes am Herzen gelegen, nämlich ein religiöse Betätigung, ein Suchen nach wahrer menschlicher Vollkommenheit und nach unmittelbarer Verbindung mit Gott. Diese Logen seien Stätten jener freien, dem Kirchenwesen abholden Frömmigkeit gewesen, die von jeher in Vereinen und Gemeinden verschiedener Art Unterschlupf gesucht habe (Vgl. Katsch: Die Entstehung und der wahre Endzweck der Freimaurerei. 1897). an hat Vergleiche zwischen den Lehrern der ketzerisch-sektirerischen Religionsparteien und dem Gedankengang der Zunftlegende gezogen, und überhaupt die Einrichtung der alten Logen, soweit sie uns bekannt sind, mit mannigfachen Bundesbildungen jener Zeit in Beziehung gebracht.
Der Leser erkennt aus alledem, daß die Vorgeschichte der Freimaurerei ein ziemlich schwieriger und ungewisser Boden ist. Er wird leicht erraten können, daß auch der Freimaurerbund selber, da er aus jenen schwer bestimmbaren Vereinigungen hervorging, etwas Dunkles und Mehrdeutiges hat, und einer klaren wissenschaftlichen Analyse widerstrebt, Diese Mehrdeutigkeit, die der Freimaurerei bist zum heutigen Tage geblieben ist, hat man oft als einen Fehler, als eine Schwäche bezeichnet. Nicht mit Unrecht. Wenn ein Bund über sein Woher und Wohin nicht im klaren ist, und widersprechende Theorien über sein Wesen und seine Zwecke in seinem Schoße um Geltung kämpfen, so steht das seinem Wirken zweifellos im Wege. Auch beunruhigt es die Öffentlichkeit und öffnet Mißverständnissen und Verdächtigungen Tür und Tor. Undurchsichtige und undefinierbare Dinge erregen leicht Mißtrauen, werden auch leicht auf Abwege gedrängt und zu fremden Zwecken mißbraucht.
Aber man kann die Sache auch von einer anderen Seite aus ansehen und in der Mehrdeutigkeit einen Vorzug erblicken. Auch die christliche Religion ist mehrdeutig, und niemand wird ihr Wesen endgültig und erschöpfend klarstellen können. Auch die christliche Religion hat viel Beunruhigung in die Welt getragen und ist zu höchst bedenklichen Zwecken gebraucht worden. Bis zum heutigen Tage liegen die Theologen und Religionsphilosophen der verschiedenen Bekenntnisse im Streit über die wahre Bedeutung der christlichen Urkunden und das tiefste Wesen des Evangeliums und der Kirche. In noch höherem Grade kann man der lutherischen Reformation und den auf sie gebauten Gemeinden den Vorwurf der Mehrdeutigkeit und Zielunsicherheit machen. Aber an diese Unsicherheit knüpft sich doch zugleich ihre innere Lebenskraft und ihr, unerschöpflicher Reichtum.
Ähnlich könnte es auch bei der Freimaurerei sein. Vereine, die mit einem festumschriebenen Programm auftreten und zur Erreichung bestimmter zeitlicher Wünsche, zur Durchführung bestimmter Reformen, oder auch zur Erforschung bestimmter Probleme ins Leben gerufen werden, haben naturgemäß nur eine beschränkte Lebensdauer. Sobald sie ihren Zweck erfüllt haben, lösen sie sich auf. Dagegen eine geistige Bewegung, wie die Reformation oder wie die Freimaurerei, die kein solch genau umrissenes und in einer abgemessenen Zeitspanne erreichbares Ziel hat, ist in der Wirkungsdauer unbegrenzt und in ihrem Wesen unzerstörbar. Natürlich hat die Freimaurerei ein Ziel, sonst wäre sie ja ein Nichts und längst vom Erdboden verschwunden, aber dieses Ziel ist von allgemeiner, umfassender Natur und kann nie gänzlich verwirklicht werden. Die Freimaurerei will, wie schon ihr Name sagt, eine Baugesellschaft sein; einen geistigen Tempel will sie bauen; den Menschen und die Menschheit will sie "aufbauen". Wie könnte dieses Ziel jemals völlig erreicht, wie könnte diese Bauarbeit jemals abgeschlossen sein! Der Tempel der tatfrohen Menschen und Gottesliebe wird in der Zeit niemals fertig werden. Daher kann es niemals einen Zeitpunkt geben, wo die Maurer ihre Aufgabe als erfüllt ansehen könnten, wo sie ihre Werkzeuge niederlegen und ihre Gemeinschaft als überflüssig oder überholt auflösen dürften. Ihr Bund geht, so drücken sie sich aus: "von Geschlecht zu Geschlecht durch alle Zeiten", wenn auch die Formen und Stilarten, die Methoden und Hilfsmittel mit dem Wandel der Zeiten sich ändern mögen. Diese Unzerstörbarkeit, die allen echten und tiefen Gemeinschaftsschöpfungen, allem wahrhaft religiösen Streben und Denken der Menschen innewohnt, wird freilich erkauft durch eine gewisse Unklarheit und Unfaßbarkeit. Was Freimaurerei ist und sein soll, bleibt eine ewig offene Frage, an der sich jedes Maurergeschlecht von neuem versucht.
Doch wir erzählen weiter, was über die Anfangs Jahre des neuen Bundes bekannt geworden ist. Mehrere Quellen stehen uns zur Verfügung, amtliche und nichtamtliche. Unter den amtlichen Urkunden sind in erster Linie die Protokolle zu nennen, die in den Großlogenversammlungen geführt wurden. Seit dem Jahre 1723, also sechs Jahre nach der Gründung, sind sie erhalten geblieben. Diese Protokolle geben uns, in dem trockenen Protokolltone, Aufschluß über die Wahl der jährlich wechselnden Großmeister, über die Abhaltung der Feste und Anordnung der Aufzüge, ferner über organisatorische Fragen verschiedener Art. Das alles ist für die Festigung und Durchbildung des jungen Bundes zwar sehr wichtig geworden, aber für unsere Frage nach den letzten Absichten der Bundesgründer gewinnen wir nicht viel daraus. Das innere Leben, das sich naturgemäß ehr in den einzelnen Logen entfaltet als in der Großloge, die nur eine Verwaltungsbehörde ist, und der eigentliche Zusammenhang zwischen den mancherlei Handlungen und Beschlüssen wird in den Protokollen fast gar nicht berührt.
Zweitens sind wir im Besitz einer amtlichen oder wenigstens amtlich zugelassenen Bundesschrift, nämlich des "Konstitutionenbuches", das im Jahr 1723 im Druck erschienen und seitdem in vielen Ausgaben verbreitet und durch Obersetzung Freimaurer aus dieser Historie in fremde Sprachen zu den Freimaurern aller Länder gedrungen ist. Der Verfasser dieses Konstitutionenbuchs ist der Prediger James Anderson (gest. 1739). Aus dieser Quelle haben Freimaurer und Nichtfreimaurer von jeher die wesentlichste Belehrung über den Bund geschöpft; aber zweifelsfrei und ausreichend ist die Belehrung keineswegs. Das Buch, einundneunzig Folioseiten stark, enthält folgende Abschnitte: Auf die Dedikation, die von dem stellvertretenden Großmeister Th. Desaguliers, einem berühmten Naturforscher und Theologen, verfaßt und an den Herzog von Montagu, den Großmeister des Jahres 1722 / 23, einen eifrigen Freund wissenschaftlicher Bestrebungen (gest. 1749), gerichtet ist, folgt zuerst eine "Geschichte“ (History) des Bundes. Diese ist, wie wir zu unserer Verwunderung feststellen, nichts weiter als eine erweiterte Umarbeitung jener oben besprochenen Zunftlegende, durch welche die Baukunst bis an den Anfang der Welt zurückdatiert und eine große Zahl von Kaisern und Fürsten, Patriarchen und Philosophen, Künstlern und Gelehrten zu Mitgliedern der "uralten" Brüderschaft der Freimaurer gemacht wird. Lessing nannte diese Geschichte: "Andersons kahle Rhapsodie, in der die Historie der Baukunst für die Historie des Ordens untergeschoben wird", und sprach von "handgreiflicher Gaukelei". Er hatte recht, wenn er die Worte des Buches ihrem gewöhnlichen Sinn nach nahm. Es fragt sich aber, ob sie nicht einen anderen, nur dem Eingeweihten verständlichen Sinn haben. Wir werden später sehen, wieviel die Freimaurer aus dieser Historie herausgesponnen und einen wie mannigfachen Gebrauch sie von ihr gemacht haben. Das eine dürfte wohl jedem einleuchten, daß verständige und unterrichtete Männer mit der Aufnahme der Legende in das Bundesgesetzbuch besondere Absichten verfolgt haben müssen. Für Geschichte können sie sie nicht gehalten haben (zumal derselbe Anderson sie in der zweiten Ausgabe 1738 erheblich verändert und weiter ausgeführt hat, ohne irgendwelche sachliche Handhaben dazu zu besitzen) und einem "Märchen" kann man eine so hohe Ehre doch nur dann als die Einkleidung tiefer Wahrheiten ansieht.
Den zweiten Teil des Konstitutionsbuches bilden die "Pflichten" der Freimaurer, die wir ebenfalls als Umarbeitung der alten Vorschriften über das Verhalten der Zunftgenossen erkennen, die in den Handschriften enthalten sind. Diese Pflichten sind für den Bund von noch größerer Bedeutung geworden als die Legende; sie stehen unter den Freimaurern bis zum heutigen Tage in Ehren und bilden in Gemeinschaft mit den formalen Eigentümlichkeiten des Bundes (Bräuchen, symbolischen Ausdrücken, organisatorischen Grundsätzen) das einigende Band, das die Freimaurerei aller Länder verknüpft und eine gewisse Gleichmäßigkeit in den national so stark unterschiedenen Bundesgruppen hervorbringt. Diesen Pflichten muß daher der Leser seine besondere Aufmerksamkeit schenken, wenn er in die Gesinnung der Bundesgründer einen Einblick gewinnen will. Es sind sechs Pflichten; die beiden ersten sind die wichtigsten und müssen hier im Wortlaut mitgeteilt werden.
Sie lauten:
I. "Der Maurer ist als Maurer verpflichtet, dem Sittengesetze zu gehorchen; und wenn er ein echter Jünger der Kunst ist, wird er gewiß kein törichter Gottesleugner oder ein religionsloser Spötter sein. Aber während die Maurer sich in alten Zeiten zu derjenigen Religion bekennen mußten, die in ihrem Lande oder Volke galt, halten wir es heute für besser, sie bloß zu der Religion zu verpflichten, in welcher alle Menschen übereinstimmen, und jedem eine persönlichen Überzeugungen zu lassen. Mit anderen Worten: sie sollen gute und treue Männer sein, Männer von Ehre und Rechtschaffenheit, so verschieden ihre Benennungen oder Glaubensmeinungen auch sein mögen. Auf diese Weise wird die Maurerei zu einer "Stätte der Einigung und zu einem Mittel, Menschen, die einander dauernd fremd geblieben wären, in treuer Freundschaft zu verbinden.“
II. "Der Maurer ist ein friedlicher Untertan der Staatsgewalt, gleichviel wo er lebt und arbeitet; er darf sich niemals an Empörungen und Verschwörungen gegen den Frieden und die Wohlfahrt des Volkes beteiligen, auch den ausführenden Regierungsorganen keinen Widerstand entgegensetzen, Da die Maurerei von Krieg, Blutvergießen und bürgerlichen Wirren immer nur Schaden gehabt hat, so ist die friedliche und gesetzestreue Gesinnung der Maurer, durch die sie die Verleumdungen ihrer Feinde am besten widerlegten, von jeher Ursache gewesen, daß die Könige und Fürsten sich ihrer annahmen und das Ansehen der Brüderschaft, die in Friedenszeiten stets gedieh, hoben. Wenn daher ein Bruder sich gegen die Staatsgewalt auflehnt, darf er in seinem aufrührerischen Vorhaben nicht unterstützt werden, obwohl man ihm als einem Unglücklichen Bedauern schenken muß. Auch kann man ihn, wenn er keines anderen Vergehens überführt wird, nicht aus der Loge ausstoßen - so, sehr die gesetzestreue Brüderschaft sein aufrührerisches Vorgehen mißbilligen soll und muß, um der bestehenden Regierung keinen Vorwand oder Grund zum politischen Mißtrauen zu geben -; seine Verbindung mit ihr bleibt unauflöslich."
In der dritten Pflicht wird die Loge als ein Ort, wo Maurer sich versammeln und arbeiten, erklärt. Dann heißt es: "Die Personen, die als Mitglieder der Loge zugelassen werden, müssen gute und treue Männer sein, die frei geboren sind, in reifem und verständigem Alter stehen und einen guten Ruf genießen; keine Leibeignen, keine Frauen, keine sittenlosen und übelbeleumdeten Menschen." Die übrigen Pflichten handeln von den Ämtern der Meister und Aufseher, zu denen man nur nach Verdienst, nicht nach dem Alter erwählt wird; weiter von den Pflichten des Meisters gegenüber dem Bauherren und den Genossen und Lehrlingen, sowie der Genossen gegeneinander; endlich von dem Verhalten in und außer der Loge. Am Schluß wird auf die "brüderliche Liebe" als den Grund und Schlußstein, Kitt und Ruhm der alten Brüderschaft hingewiesen und zur Vermeidung gerichtlicher Streitigkeiten ermahnt.
Was lernen wir aus diesen Pflichten (Sie sind vollständig abgedruckt in dem „Freimaurerischen Lesebuch" (Einführung in das freimaurerische Schrifttum) von Aug. Horneffer, 2 Bde., 2. Aufl. 1925) über das Wesen des Bundes, der sie auf seine Fahne schrieb?
Auf den ersten Blick machen sie einen etwas nüchternen, handwerklich schlichten Eindruck und scheinen mehr Negatives als Positives zu enthalten. Denn so wird mancher sagen: was ist Neues und Besonderes daran, wenn die Freimaurer erklären, sich dem Sittengesetz unterwerfen und die Glaubensunterschiede nicht hemmend zwischen sich treten lassen zu wollen? Ebenso, wenn sie versichern, die Staatseinrichtungen achten und keine politischen Umtriebe zulassen zu wollen? Diese Grundsätze erkenne doch jeder Interessen- und Vergnügungsverein an; worin also liege das, was die Freimaurer anderes und Größeres zu bieten haben? - Wer aufmerksamer liest, der gewahrt, daß in den einfachen Sätzen dieser Pflichten ein ganz eigentümlicher Klang, ein starkes und reines Gefühl, ein mächtiges positives Leben wohnt. Aus der Arbeit, aus der ganz natürlichen, menschlich-sittlichen Pflichterfüllung wird hier eine Art Bekenntnis, nicht ein dogmatisches Bekenntnis, sondern ein Gesinnungsbekenntnis entwickelt, ein Bekenntnis zum Schaffen im höchsten Sinne. Und dies Bekenntnis zum Schaffen wird organisch verknüpft, ja es wird vollständig gleichgesetzt mit dem Bekenntnis zur Menschenliebe, zur brüderlichen Treue gegen alle mitarbeitenden Zunftgenossen auf der weiten Erde. Das Menschengeschlecht. soll, so fordern diese Zunftregeln, eine einzige Baugesellschaft bilden! Die Welt ist gleichsam eine einzige, ins Unendliche vergrößerte Loge!
Wir müssen uns in die Zeit zurückversetzen, in welcher diese "Alten Pflichten" zur Grundlage einer über die ganze Erde sich ausbreitenden Brüderschaft gemacht worden sind. Das 17. Jahrhundert war erfüllt von blutigen Religionskriegen und furchtbaren sozialen und politischen Wirren. Seitdem Martin Luther und seine Mitstrebenden und Vorgänger die alte Mutter Kirche zur Rechenschaft gezogen und neue kirchliche Organisationen neben dem überkommenen Gotteshause aufgerichtet hatten, war der schon lange währende Streit um die höchsten Wahrheiten zum offenen Ausbruch gekommen. Nicht weniger blutig war das heftige Ringen um die Staatsform und die politischen Rechte, das in England sogar zur Verurteilung und Hinrichtung eines gekrönten Hauptes geführt hatte. Da war denn in den Besten allmählich der Wunsch übermächtig geworden, einen Ort des Friedens zu finden oder zu schaffen, zu welchem das Getöse der Waffen nicht dringen konnte. Sie sehnten sich nach jenem Reiche, in welchem alle Gegensätze sich auflösen, alle persönlichen Wünsche und Vorteile zu schweigen haben. Dieser Ort, dieses Reich, so hofften und forderten sie, sollte die Loge sein, die das Hereintragen politischer und konfessioneller Streitigkeiten in den "Alten Pflichten" ausdrücklich untersagte und die Menschen nur in ihrer Menschlichkeit zusammenführen sollte.
Daraus ergab sich dann von selber, daß der neue Bund, der doch zugleich ein alter Bund war und seine Ahnenreihe sogar bis in die Urzeit des Menschengeschlechts zurückverfolgte, nicht ein Parteigebilde wurde. Er wurde nicht einmal zu einem parteilosen Diskutierklub! Diese Männer erkannten, daß, wenn Menschen sich über alle Unterschiede hinweg innig mit einander verbinden wollen, das Reden überhaupt nicht die Hauptsache ist. Wer daher fragt, worüber die Logenbrüder eigentlich reden, da sie doch über Staat und Kirche nicht reden sollen, der bedenkt nicht, daß es außer den Begriffen und Schlagworten noch ein anderes Verständigungsmittel unter den Menschen gibt. Das ist das Gleichnis, das Symbol, das Zeichen. Ist doch schon die ganze Existenz dieses Bundes ein Gleichnis; denn diese Maurer sind nur gleichnisweise Maurer, diese Werkleute arbeiten an einem unsichtbaren Tempel und ihr Meister ist nicht ein irdischer Auftraggeber und Fachmann, sondern die göttliche Schöpferkraft im All.
Hier wird es deutlich, daß es sich in der Freimaurerei auch nicht um wissenschaftliche Forschung, nicht um philosophische Lehren handelt! Wann haben die Menschen zum Gleichnis gegriffen? Wenn religiöse Gefühle sie bewegten, wenn unaussprechbare Erlebnisse sich ihrer bemächtigten. Dann erwachte der künstlerische Gestaltungstrieb und formte die Erlebnisse zu bildhaften Wahrheiten. Was den Menschen erfüllte und bedrängte, wurde zur Gebärde, zum Gleichnis, zur symbolischen Handlung. Hier liegt auch die tiefste Erklärung dafür, daß die Menschen des beginnenden 18. Jahrhunderts, welche der weltlichen und geistigen Entzweiungen müde waren, sich einem Handwerker und Künstlerverein anschlossen und die Einrichtungen, Handlungen und Kennzeichen einer Baugilde zum Aufbau eines allgemeinen Menschenbundes benutzten. Mit Worten und Begriffen, mit konfessionellen und politischen Parteiungen kann man, so sagten sie sich mit Recht, des Unheils in der Welt nicht Herr werden. So notwendig das alles sein mag, so muß doch noch etwas hinzukommen: eine Verständigung über alle Parteiungen und Lehrmeinungen hinweg. Diese Verständigung ist eine "Kunst", sicherlich die höchste und schwerste Kunst, eine Kunst, die den ganzen Menschen umzuformen und zu einem lebendigen Stein in dem großen Tempel zu machen unternimmt, eine Kunst also, die das praktische und sittliche Handeln, das Leben in allen seinen Äußerungen zu beeinflussen versucht. Daher bezeichnen die Bundesurkunden die Freimaurerei auch als die "Königliche Kunst“. Das ist ein Ausdruck, der sehr anspruchsvoll klingt. Er deutet darauf hin, daß sich hinter der Schlichtheit und Unklarheit dieser Männergesellschaft nicht mehr und nicht weniger verbarg als ein Menschheitsevangelium.
Freilich, läßt es sich nicht streng beweisen, daß den Logen, die am Johannistag 1717 die erste Großloge bildeten und das Konstitutionenbuch ihrer neuen Gemeinschaft zugrunde legten, dies Evangelium klar bewußt gewesen wäre. Aller Wahrscheinlichkeit nach hat sich nur ein Teil der Mitglieder zu dieser hohen Auffassung aufgeschwungen. Aber den Führern muß sie zweifellos vorgeschwebt haben.' Wie will man sonst erklären, daß geistig bedeutende Männer dem Bunde gleich bei seinem Entstehen ihre Teilnahme geschenkt haben und auch späterhin immer wieder Menschen von tiefer und ernster Gesinnung durch die Freimaurerei gefesselt worden sind? Mit Selbstverständlichkeiten und banalen Moralsätzen würden sich die Philosophen, die wir unten erwähnen werden, wohl kaum so eingehend beschäftigt haben; und daß sie alle sich getäuscht und in das Konstitutionenbuch Dinge hineingelegt hätten, die nicht darin sind, kann man bei so scharfsinnigen Geistern doch wohl kaum annehmen.
In dem Konstitutionenbuch folgen dann allgemeine Verordnungen, die sich fast ausschließlich auf die Logenorganisation, auf die Aufnahme neuer Mitglieder und die Befugnisse der Beamten beziehen. Weiter finden wir eine kurze Beschreibung, auf welche Weise der Großmeister neue Logen konstituiert. Den Schluß bildet die Approbation des Buches durch die Großloge und 20 Einzellogen. Als Anhang folgen einige Lieder und Mu siknoten. Diese Gesänge verraten uns, daß die Freimaurer von ihrer Gemeinschaft sehr begeistert und im geselligen Kreise sehr vergnügt waren, jedoch keine guten Poeten hatten. Auch sonst spürt man in dem Konstitutionenbuche nicht besonders viel Geschmack und Geist. Der Verfasser Anderson ist ein wort- aber nicht ein gedankenreicher Schriftsteller. Wir müssen den Schluß ziehen, daß die damaligen Freimaurer auf literarische Vorzüge keinen großen Wert legten, wobei man allerdings berücksichtigen muß, daß jenes Zeitalter auf diesem Gebiete überhaupt nicht stark war.
Das Konstitutionenbuch wurde in den Logen an einem bevorzugten Platze niedergelegt und wurde bei feierlichen Umzügen auf kostbarem Kissen einhergetragen. Wir wenden uns den übrigen Zeugnissen und Nachrichten zu, die uns von der Entstehungszeit der Freimaurerei Kunde geben. Vor allem ist da eine Verteidigungsschrift zu erwähnen, die im Jahre 1730 als halbamtliche Antwort auf die im gleichen Jahre erschienene Schrift von Samuel Prichard "Masonry dissected" herauskam. In der Masonry dissected, die großes Aufsehen erregt hatte und die unter dem Titel "Die zergliederte Freimaurerei" auch in Deutschland weiteste Verbreitung fand, waren die Fragen und Antworten (Lehrdialoge, Katechismen) veröffentlicht worden, deren man sich in den Logen bei den rituellen Versammlungen, insonderheit bei den Aufnahmen bediente. Außerdem hatte der Verfasser einen kurzen Abriß der Zunftlegende gegeben und sich tadelnd über die Aufnahmegebühren ausgesprochen, wofür den Männern, die sich aus allen Ständen in den Bund hineindrängten, nichts Wertvolles geboten werde. Gegen diese Schrift trat die Großloge mit einer "Defence of Masonry" auf, die den wahren Gehalt der Freimaurerei darzustellen unternimmt. Zunächst wird in einer nicht sehr geschickten Form der Vorwurf des Betruges und Gimpelfanges, den der Zergliederer erhoben hatte, abgewehrt. Einem Bunde, der so reiche und angesehene Mitglieder zähle, könne es unmöglich um das Aufnahmegeld zu tun sein! Der Zweck der Freimaurerei sei von dem Zergliederer völlig verkannt worden; er be stehe darin, "unsere Leidenschaften bezwingen“ zu lernen. Die Formen, in die sie sich kleide und die Prichard dem Gespött preiszugeben versuche, seien nicht das Wesentliche; jedoch seien diese Formen weder gottlos, noch lasterhaft, noch lächerlich. Verlangt nicht jeder Beruf, jeder Verein von uns die treue Bewahrung von Geheimnissen? Wer kann sagen, daß der Freimaurereid den Staatsgesetzen oder dem Gewissen widerstreitet? Unsere symbolischen Gebräuche enthalten wohl manches Veraltete und sind durch schlechte Tradition wohl hie und da verdorben - der Verfasser erklärt die freimaurerische Symbolik für einen "Torso" -, aber auch ein Torso ist ehrwürdig, wenn man seine ursprüngliche Schönheit und Bedeutung erkennt. Die Formen unseres Bundes sind verwandt mit den ägyptischen Mysterien und mit den Bundesriten der Pythagoräer. Auch mit den Gebräuchen der Essener haben die Freimaurer vieles gemein. Ferner erinnert der Verfasser noch an die "Kabbalisten" und die "Druiden" und führt Stellen aus antiken Schriftstellern an, um seine Meinung zu begründen.
Wir ersehen aus dieser Verteidigungsschrift, in welchem Sinne die damaligen Freimaurer - wenigstens die maßgebenden unter ihnen - die Behauptungen der Zunftlegende von dem hohen Alter und der Würde der "Königlichen Kunst“ verstanden. Sie suchten ihre Ahnen in den berühmten, geheimnisvollen Bünden der Vorzeit und legten den schlichten und wunderlichen Maurerbräuchen eine tiefe, religiöse sittliche Bedeutung bei. Dasselbe bekunden einige andere Äußerungen der damaligen Freimaurer. Einen schwärmerisch, theosophischen Ton schlägt ein Freimaurer in der Vorrede zu dem Buche "Long Livers“ (1721/22) an, der den Bund direkt in eine Reihe mit den Enthusiastengemeinden und religiösen Geheimzirkeln des 17. Jahrhunderts setzt. In der zweiten Auflage des Konstitutionsbuches (1738) lesen wir einen offenen Brief eines "Bruders Euklides", in dem es heißt: ein echter Freimaurer könne über den Unverstand der Angreifer des Bunds nur lachen. Da behaupte man, die Freimaurer brächten den Teufel in ihren Kreis oder ließen ein altes Weib erscheinen oder brennten den Neulingen mit glühendem Erz ein Mal ein.
Andere wieder sagten: sie seien Feinde des schönen Geschlechts; sie nähmen wahllos Leute aller Berufe und Religionen auf; sie vertäten in der Loge ihr Geld mit Trinken. Alle diese Behauptungen - man sieht, daß vor 200 Jahren die Vorwürfe, deren sich der Bund zu erwehren hatte, schon genau dieselben waren wie heutigentags - erklärt Bruder Euklides entweder für erlogen oder auf Mißverständnis beruhend. über die Geheimhaltung, an der man sich schon damals am meisten stieß, da man allerhand bösartigen Unfug dahinter witterte, geht er mit der kurzen Bemerkung hinweg, man solle nicht über Dinge urteilen, die man nicht verstehe, weil man sie nicht kenne, Die einfachsten Erklärungen verschmähe man und suche die phantastischsten hervor. Es sei gerade die Ehre der Brüderschaft, daß sie Männer aller "Professionen und Benennungen" in sich vereinige, denn sie wolle die Menschen tolerant machen und sie durch den Verkehr mit klügeren und andersartigen Menschen bilden. Er gibt zu, daß sich auch Unwürdige einschleichen; aber, - in welcher Vereinigung käme das nicht vor! Die Freimaurer selber bedauern es am meisten, sie haben aber nicht die Macht, es zu verhindern; auch können sie nicht das Verhalten der Brüder zu jeder Zeit beaufsichtigen. Wenn Freimaurer sich berauschen und zu üppig leben, so ist gewiß nicht die Loge daran schuld. Darum soll sich, - so schließt Bruder Euklides seinen Brief -, allen Verleumdungen und Angriffen zum Trotz die Königliche Kunst von einem Pol zum andern, von Ost nach West über die Erde ausbreiten! - In diesen letzten Worten kommt jene treue begeisterte Anhänglichkeit an die Freimaurerei zum Ausdruck, die eine immer wiederkehrende Eigentümlichkeit der Maurer zu allen Zeiten geblieben ist. Sie allein erklärt es, daß der Bund nicht sofort bei seinem Entstehen unter den Verdächtigungen und unter dem noch schlimmeren Fluche der Lächerlichkeit begraben worden ist, sondern allen Stürmen standgehalten hat, obwohl die Freimaurer selber die Unvollkommenheit und Trümmerhaftigkeit seiner Einrichtungen anerkennen und beklagen.
Daß die Freimaurer "Fresser und Weinsäufer" seien, um einen Ausdruck des Neuen Testaments zu gebrauchen, ist damals von mehreren Seiten behauptet worden. Offenbar konnte, man sich die Verbindung ernster, teils moralischer, teils wissenschaftlicher Bestrebungen mit einer fröhlichen Geselligkeitspflege schwer finden. Auch mögen wohl hi und da Ausschreitungen vorgekommen sein, wie denn in den Festberichten die materiellen Freuden eine nicht geringe Rolle spielen. Die Beamten (Stewards, Schaffner), die die Bundesmahlzeiten auszurichten hatten, eroberten sich eine wichtige Stellung im Bunde, So mag das, angenehme Klubwesen manchen in die Freimaurerei hineingelockt haben, der von dem tieferen Sinne der maurerischen "Tafelrunde" nichts begriff und der daher dem Rufe des Bundes nach außen ebensowenig zum Vorteil gereichte wie der geistigen Entwicklung der Maurerei nach innen.
In der Londoner Öffentlichkeit machten sich die Freimaurer durch feierliche Auffahrten durch die Straßen der Stadt bei Gelegenheit der Jahresfeste bemerkbar. Die Zeitungen brachten Mitteilungen über diese Aufzüge und berichteten über die Wahl hochadeliger Herren zu Großmeistern des Bundes. Auch sonst traten die Freimaurer öffentlich hervor: sie legten, eingedenk ihres Charakters einer geistigen Bauzunft, den Grundstein bei Errichtung hervorragender Gebäude. In dieser Zeremonie kam ihr Doppelwesen recht klar und imponierend zum Ausdruck; denn was bedeutet eine Grundsteinlegung und wer hat sie zu vollziehen? Scheinbar ist sie ein rein handwerklicher Akt, der dem bauleitenden Meister zukommt. In Wirklichkeit ist sie von jeher -als eine religiöse Handlung, als ein mystischer Segnungsakt aufgefaßt worden. Priester, Könige, Beauftragte einer Gemeinde oder einer Körperschaft nehmen noch heute solche Grundsteinlegungen vor. Daß man sie in England dem Bunde der Freimaurer übertrug, beweist uns, daß man in ihm etwas Besonderes, etwas Geistiges sah, das doch zugleich mit dem des Bauens und Steinlegens nahe verbunden ist.
Ferner trugen die Freimaurer ihre verstorbenen Mitglieder korporativ zu Grabe, gingen auch wohl korporativ in die Kirche und ins Theater. Dabei erregten sie durch ihre Tracht die Neugierde und Spottlust des großen Publikums, ohne aber ernstlich feindselige Gefühle hervorzurufen. Wir können aus allen Nachrichten mit Sicherheit schließen, daß die große Mehrheit der Londoner Bevölkerung in der Brüderschaft nichts Böses und Gefährliches erblickte, freilich ihr auch keine übergroße Bedeutung beilegte. Man faßte sie als einen etwas wunderlichen, aber vornehmen Klub auf, und es ist offenbar, daß die Mitglieder diese Auffassung eher begünstigten als zurückwiesen.
Die Besorgnis, daß der neuen Gründung von sei ten des Staates Schwierigkeiten gemacht werden könnten, verschwand, als es gelang, den hohen Adel für den Bund zu gewinnen und sogar Mitglieder der königlichen Familie in den Kreis der Maurer zu ziehen, Am 5. November 1737 wurde Prinz Friedrich von Wales durch eine Deputation der Großloge unter Führung Desaguliers im Schlosse Kew bei Richmond aufgenommen. Anderseits schützte die Mitgliedschaft von Geistlichen den Bund vor Verfolgungen durch die Kirchen. Der Bund wurde, so dürfen wir sagen, in dem freien protestantischen England als ein berechtigtes und natürliches Glied in dem geistigen und politisch sozialen Leben anerkannt. Auch wer sich nicht in ihn finden konnte, fand sich doch mit ihm ab und duldete, unter mehr oder weniger energischen Protesten gegen seine Sonderbarkeiten, sein Dasein.
Erleichtert wurde den Freimaurern ihre Stellung innerhalb der englischen Staats- und Volksgemeinschaft durch einen Charakterzug, den wir noch nicht erwähnt haben: durch die Wohlfahrtspflege, die sich der Bund angelegen sein ließ. „Brüderliche Hilfe" den Bedrängten zu leisten, war ein Grundgebot, ein Grund- und Markstein der freimaurerischen Gesetzgebung. Die Einzellogen und auch die Großloge als solche schufen Unterstützungseinrichtungen, die den bedürftigen Brüdern zugute kamen. Aber auch an der allgemeinen Armenpflege nahmen die Freimaurer regen Anteil. Das war ein Zug, der dem Publikum Eindruck machte und der auch den Staat für den Bund einnehmen mußte. Wir müssen uns dabei vor Augen halten, daß in jener Zeit an ein Versicherungswesen im heutigen Sinne noch nicht zu denken war. Wer sich gegen Not und Verarmung schützen wollte, war auf private Freundschaftshilfe angewiesen. Diesem Bedürfnis kam der Maurerbund entgegen: er verhieß dem Bedrängten Rat, dem Leidenden Hilfe, den Armen rettende Tat. Dadurch wurde mancher dem Bunde gewonnen, der ohne das vielleicht Miß trauen gehegt hätte.
Freilich wurde dadurch auch ein bis heute noch nicht beseitigter Übelstand begründet, daß nämlich ungeeignete Bewerber sich herzudrängen, die bloß um der materiellen Vors teile willen Freimaurer sein wollen. Sie verstanden nicht, daß die gegenseitige Hilfe im Bund nur als Ausdruck und Ausfluß wahrer Freundschaft gemeint war, als notwendige Begleiterscheinung gleichsam der durch die Maurerei gepflanzten Herzensgüte und Menschenfreundlichkeit. Eine Versicherungsanstalt sollte und wollte der Bund nicht sein, er dachte nicht daran, den Mitgliedern ein Recht auf einen, den Einzahlungen entsprechenden Betrag zu gewährleisten. Ob und was man gab, hing nicht von geschäftlichen und rechtlichen Erwägungen ab, sondern von der Not und den Verdiensten des Empfängers. Jedenfalls hat die Öffentlichkeit schon damals mit vollem Recht in dem Bunde eine Art Wohlfahrtseinrichtung gesehen, wenn diese Wohlfahrtseinrichtung auch einen ganz besonderen Charakter trug, den man vielfach nicht richtig durchschaute. Auch den Kirchen und Sekten wurde da, mit eine Waffe gegen die Freimaurerei aus der Hand geschlagen: eine Vereinigung, die soviel Gutes tat, konnte nicht ganz verwerflich sein und mußte milde und vorsichtig behandelt werden.
Das ungefähr sind die Umstände, unter denen der Freimaurerbund ins Leben trat; das die Hauptzüge, die dem Volke, in dem er entstand, ins Auge fielen. Ein vieldeutiges, scheinbar widerspruchsvolles Gebilde; ein Handwerkerverein, der reiche Feste feierte; ein Mysterienbund, der im Maurerschurz arbeitete; eine Wohltätigkeitsgesellschaft, die den sieben freien Wissenschaften huldigte. Dunkel der Ursprung, sagenhaft der Stammbaum, unscheinbar der geistige Gehalt - und doch eine freie großzügige Gesetzgebung, ein stolzes Selbstbewußtsein, ein treues, opferbereites Zusammenhalten. Und lockend stand über der geheimnisvoll verschlossenen Türe ein Wort, das den einfachsten wie den gelehrtesten und verwöhntesten Geist nachdenke lieb stimmte, das Wort: "Als Maurer bekennen wir uns nur zu der Religion, in welcher alle Menschen übereinstimmen."
Was bedeutete das? Was für ein Geheimnis verbarg dieser Maurerbund ins einem Innern? Was für ein Licht leuchtete in der dem äußeren Licht unzugänglichen Hütte? War es ein göttliches, war es ein menschliches, war es ein teuflisches Licht?
So fragte man, ohne Antwort zu erhalten. Denn die Freimaurer gaben nur notgedrungen Aufschluß, und was sie sagten, schien die Sache eher mehr zu verdunkeln, als zu erhellen. Wollten sie nicht deutlicher reden? Oder wußten sie selber nicht mehr? War auch den Freimaurern ihr Bund ein Geheimnis?
Alle diese Fragen sind schon an der Wiege der Freimaurerei laut geworden, Wir wollen nun sehen, wie weit sie in der Folge, als der Bund erstarkte und seine ursprüngliche Heimat verließ, Beantwortung fanden.
Entwicklungskämpfe
Der Bund verbreitete sich erstaunlich schnell. Er ,entwickelte eine Werbekraft, die angesichts seines unklaren Programms und der äußeren Hindernisse, die dem Anwachsen einer derartigen Vereinigung naturgemäß im Wege stehen, ans Wunderbare grenzt. Wir berichten zunächst ganz kurz über die Ausbreitung im britischen Reiche, um dann das Übergreifen der Freimaurerei auf das europäische Festland und die damit verbundenen Umgestaltungen und Kämpfe zu verfolgen. In den allerersten Jahren scheint die Zunahme der Mitglieder nur langsam erfolgt zu sein. Wir haben eine Nachricht von einem Dr. Stukely, der sich am 6. Januar 1721 zum Freimaurer aufnehmen ließ; wie er sagt: aus Neugierde, er vermutete, die Freimaurerei enthalte die "Überbleibsel der Geheimnisse der Alten". Dieser Dr. Stukeley erzählt, die Zahl der Freimaurer sei damals so gering gewesen, daß sich in ganz London nur mit Schwierigkeit eine genügende Anzahl von Mitgliedern habe auftreiben lassen, um die Zeremonie auszuführen. Das mag etwas übertrieben sein, aber es zeigt, wie selten und schwer zu befriedigen damals noch das Begehren war, der Gesellschaft anzugehören. Zu bemerken ist dazu noch, daß die Aufnahmen in der Frühzeit des Bundes doppelt waren: wer in der vorgeschriebenen Weise zum Maurer "gemacht" worden war, hatte damit noch nicht die Mitgliedschaft in einer Loge gewonnen, dazu war eine neue Bewerbung erforderlich, der durchaus nicht immer stattgegeben wurde. Heute ist jeder Freimaurer zugleich Mitglied einer bestimmten Loge und wird als solcher sofort dem Bruderkreis einverleibt.
Stukeley fügt selber hinzu, daß dann die Ausbreitung rasch, ja all zu rasch vor sich gegangen sei. Die Freimaurerei habe sich "außer Atem gelaufen durch die Torheit der Mitglieder". Wir hör en sehr bald von Logen in anderen englischen Städten, ferner von der Gründung eigener Großlogen in Irland (1722/24) und Schottland (1736). Das Leben, das sich in diesen auswärtigen freimaurerischen Körperschaften entfaltete, wich in keinem wesentlichen Punkte von der Londoner Freimaurerei ab. Überall nahm man das Konstitutionenbuch als Urkunde über Geschichte, und Wesen des Bundes an, hielt sich auch in bezug auf Verfassung und Formen an das Londoner Vorbild. Die Logen Englands bildeten eine organisatorische Einheit; dagegen machten sich die Großlogen in Irland und Schottland selbständig. Auch eine Loge in York wollte die Hoheit der Londoner Großloge nicht anerkennen und erhob Anspruch darauf, als die älteste und vornehmste Loge Britanniens zu gelten. Diesen, Anspruch gründete sie aber bezeichnenderweise nicht auf eigene historische Dokumente, sondern auf Andersons sagenhafte Erzählung, daß im Jahr 926 eine große Freimaurerversammlung durch den Prinzen Edwin nach York berufen worden sei. Organisatorisch hatte die Yorker Loge fast gar keinen Erfolg, aber die Behauptungen von dem hohen Alter der Yorker haben lange im Bunde nachgewirkt. Mehrere andere Logen, von denen wir nichts Näheres wissen, scheinen ebenfalls ihre Unabhängigkeit von der Londoner Großloge behauptet oder erstrebt zu haben. Es wird öfter vor "irregulären" Maurern gewarnt und die Verbindung mit solchen, die sich den von der Großlage ausgegebenen Gesetzen und Stiftungsregeln nicht fügen wollten, abgelehnt. Bis zum heutigen Tage treten immer wieder Vereinigungen auf, die sich freimaurerisch nennen und ähnliche Gebräuche haben wie die Freimaurer, aber in keiner Beziehung mit den anerkannten Logen und Großlogen stehen.
Man nennt solche Vereinigungen "Winkellogen", weil sie ein Sonderdasein führen und sich außerhalb der Gesamtbrüderschaft stellen. Doch haben sie neuerdings begonnen, sich ihrerseits zu eigenen Verbänden zusammenzuschließen. Ihr Wert und Charakter ist sehr verschiedenartig. Sie setzen sich meist aus unzufriedenen Freimaurern oder aus nicht angenommenen Bewerbern zusammen. Ob die ersten Winkellogen aus Fachmaurern bestanden haben, die sich der ohne ihr Wissen und Zutun geschaffenen Londoner Großloge nicht anschließen wollten, läßt sich nicht mehr feststellen. Im Jahre 1751 tat sich eine zweite Großloge in London auf, die bald in lebhaften Streit mit der ersten geriet. Sie behauptete die echten und älteren Traditionen zu besitzen, warf der Großloge von 1717 unberechtigte Neuerungen vor und ließ sich von dem Großsekretär L. Dermott ein eigenes Konstitutionenbuch unter dem Titel "Ahiman Rezon" schreiben. Man nimmt heute an, daß diese "Alten Maurer", wie sie sich nannten, hauptsächlich aus Iren bestanden. Die Unterschiede, um die es sich handelte, schienen aber den Streitenden selber nur geringfügig und es gelang, die beiden Großlogen später (1813) wieder zu vereinigen. Hätten die Engländer die. Formen der Freimaurer und die Frage, ob älter oder jünger, ursprünglich oder abgeleitet, ebenso ernst genommen wie die Freimaurer des Kontinents, insbesondere die deutschen, so wäre die Einigung vielleicht nicht zustande gekommen. Die englischen Freimaurer waren (und sind noch heute) zwar konservativ und halten gern das Hergebrachte fest, aber sie arbeiten sich nicht tief genug in die Probleme hinein und bringen für deren Lösung nicht genug Leidenschaft auf. Im ganzen war man - und ist man noch heute, - in England mit der Freimaurerei, wie sie ist, zufrieden. Zwar verstummen die Klagen über den Verfall nie ganz, aber man läßt sich dadurch nicht die Freude an dem Bunde und zumal an dem gemächlichen Klubleben stören.
Ähnlich war es in den Koloniallogen, die sehr bald gegründet wurden. An Vertiefung und Fortbildung der Freimaurerei dachte man in den Kolonien noch weniger, hatte dort wohl auch keine Zeit für solche Dinge. Die erste ostindische Loge wurde 1730 in Kalkutta gegründet. Bald folgte Amerika, das sich als ein sehr ergiebiger Boden für das Logenwesen erwies. Hier in Amerika machten sich allerdings nach einiger Zeit auch französische Einflüsse bemerkbar, die eine gewisse Gärung hervorbrachten. Eine ganze Anzahl von Großlogen mit stattlichen Mitgliederzahlen trat nach und nach auf den Plan, und man kann ohne Übertreibung behaupten, daß der Aufbau der amerikanischen Staaten erheblich durch diese Logenorganisationen gefördert worden ist. Auch Washington und seine Mitarbeiter waren Frei maurer.
Wir kommen nun zu Frankreich, das man geradezu als das zweite Gründungsland der Freimaurerei bezeichnen kann. In Frankreich nahm der Bund eine so veränderte Gestalt an, daß er kaum als Abkömmling des englischen wiederzuerkennen war. Auch wurde in Frankreich, ebenso wie in Deutschland, lange Zeit die Abkunft von der englischen Freimaurerei geleugnet. Schwere innere Kämpfe mußte der Bund in Frankreich durchfechten, auch mit der Öffentlichkeit kam er in Konflikt. Später warf man ihm auch vor, daß er die französische Revolution veranlaßt habe. Daß er an den sozialen und politischen Zuständen Frankreichs bis in die Gegenwart hinein aktiv beteiligt ist, weiß alle Welt.
Zunächst ist gegenüber früheren Annahmen festzustellen, daß die Franzosen die Freimaurerei nicht anders als die übrigen Länder von England bezogen haben. Auch für sie waren im Anfang das Andersonsche Konstitutionenbuch und die Einrichtungen der Londoner Großloge maßgebend. Vielleicht hat schon in den zwanziger Jahren eine Loge in Paris bestanden; mit Sicherheit läßt sich die erste jedoch erst im Jahre 1712 nachweisen. Die Begründer waren Engländer. Geistig war Frankreich damals in hohem Grade von England abhängig; nach der bürgerlichen und der religiösen Freiheit, die in England seit Jahrzehnten bestand, sehnte sich Frankreich vergeblich; die englische Philosophie und Wissenschaft wurde mit Begeisterung aufgenommen, mußte sich aber vielfach Hemmungen und Verfolgungen gefallen lassen. Die Freimaurerei fand ebenfalls nicht das Wohlwollen der Regierung. Man witterte Gefahren in der geheimnisvollen, die Vermischung der Stände und Bekenntnisse begünstigenden Vereinigung. Im Jahre 1736 wurden die freimaurerischen Versammlungen in Paris verboten und die Gastwirte, die sie in ihren Räumen duldeten, bedroht. Trotzdem wurden die Zusammenkünfte fortgesetzt; der Zulauf nahm eher zu als ab; offenbar tat die Neugierde, die den Franzosen im Blute liegt, das ihrige. Es scheint, daß man bei den Aufnahmen sehr unvorsichtig war; Unwürdige drängten sich ein; ja die Gastwirte gründeten selber Logen und ließen jedermann zu, der die Gebühren zahlte. Schon das gab dem Bunde einen anderen Charakter: die erregte Neugierde mußte befriedigt werden, die Versammlungen mußten allen Wünschen, nicht zum wenigsten denen der Gastwirte, entgegenkommen, außerdem mußten ernste Vorsichtsmaßregeln getroffen werden, um die Polizei fern zu halten und um innerhalb des Bundes die besseren und zuverlässigeren Mitglieder in engeren Zirkeln zu sammeln. Es entstanden Kreise von Auserwählten, die an dem Treiben der anderen keinen Gefallen hatten.
Auch scheint es, daß sich manche Adlige gegen zu nahe Berührung mit den Bürgerlichen wehrten. Sie waren zwar theoretisch für die Freiheit und Brüderlichkeit, die der Bund verlangte, eingenommen, aber in der Praxis machten sie Einwendungen und wollten nicht mit Hinz und Kunz zusammensitzen. So kam es zu Gegensätzen, zu Absonderungen und Spaltungen. Der eine verlangte, daß der Bund aristokratischer und wählerischer werden sollte, der andere, daß er sich auf seinen wahren Ursprung besinnen und sich hohe und edle Aufgaben stellen sollte. Dazu kam seitens der Öffentlichkeit die Gegenwirkung, die hier viel ernster und energischer war als in England. In Frankreich blieb es nicht bei spöttischen Äußerungen und gehässigen Ausstreuungen einzelner; vielmehr ergriffen die maßgebendsten Gewalten, die drei Großmächte im französischen Gemeinschaftsleben gegen die Freimaurerei Partei. Das war erstens der Staat, zweitens die katholische Kirche, drittens die Frauen. Zwar hat sie allen dreien siegreich widerstanden; aber sie wurde durch die Verteidigung auf Abwege gedrängt und zu einschneidenden Reformen genötigt. Die Verfolgung des Staates beantwortete sie damit, daß sie die politische Opposition begünstigte und in ihrem Schoße großzog; den Angriffen der Kirche begegnete sie dadurch, daß sie teils antikirchlich wurde, teils umgekehrt katholischen Gedanken und Formen Eingang gewährte; die Unzufriedenheit der Frauen suchte sie dadurch zu dämpfen, daß sie ihren Ausschluß vom Bunde aufhob und eine weibliche Form der Freimaurer ins Leben rief.
Einige dieser Reformbestrebungen wollen wir etwas genauer besprechen. Mehrere Schriften, die genaue Auskunft geben, wenn auch ihre Angaben und ihre Beurteilung nicht zweifelsfrei sind, liegen uns vor. Zunächst sind zwei apologetische Schriften zu erwähnen, die beide im Jahre 17 3 8 erschienen.
Beide stehen literarisch höher als die englischen Schriften, die wir genannt haben; beide sind Reformschriften. Die eine heißt "Relation apo1ogique, et historique de la Société des Francs- Macons"; ihr Verfasser ist unbekannt. Sie knüpft an die Veröffentlichung der freimaurerischen Gebräuche an, die der Pariser Polizeipräsident Hérault veranlaßt hatte. Hérault hatte das Manuskript von einer Opernsängerin erhalten, die es wiederum ihrem freimaurerischen Liebhaber abgeschwatzt hatte. Die Relation erklärt wie die englische Defence: diese Bräuche seien nicht die Hauptsache im Bunde. Sie geht aber viel weiter als die englische Schrift, indem sie hinzufügt: die Freimaurer lachten selber über manche der freimaurerischen Bräuche und hätten jetzt ganz andere, sinnvollere eingeführt.
Der Bund sei eigentlich eine gelehrte Akademie und sei den antiken Gelehrtengesellschaften, wie sie Ciceros Cato beschreibt, nachgebildet. Die Freimaurer hätten die Absicht, durch Untersuchung und archivalische Sammlung aller Gegenstände des menschlichen Wissens die Tugend und Glückseligkeit auf Erden zu fördern. Diesem Zwecke diene auch ihre mäßige und einfache Geselligkeit. Ihrer philosophischen Überzeugung nach seien sie Pantheisten. Der Verfasser gibt dabei zu erkennen, daß er nicht den Bund wie er ist, sondern wie er ihn haben möchte, schildert, also ein Idealbild entwirft, dem das derzeit Vorhandene nicht entspricht. Wir haben also einen Reformer vor uns, der die Freimaurerei in einem philosophisch.4reigeistigen, die Ideen der Encyklopädisten vorwegnehmenden Sinne aus oder umgestalten will.
Seine Schrift hat in der Bruderschaft starken Widerhall gefunden, wie wir aus ihrer Verbreitung und ihren Übersetzungen schließen müssen. Jedoch kann man nicht sagen, daß die Reformvorschläge irgendwo in größerem Umfange durchgeführt worden wären. Außerdem ist dieser Schrift von der Kirche eine große Bedeutung beigelegt worden: sie wurde im Jahre 1739 in Rom durch Henkershand feierlich verbrannt. Rom hatte nämlich inzwischen der Freimaurerei das Urteil gesprochen. Die nächste Veranlassung hierzu hatte die Gründung von Logen in Toskana und in Rom selber gegeben. Dadurch war der Heilige Stuhl auf die neue Verbindung aufmerksam geworden und erließ am 28. April 1738 eine Bannbulle („In eminenti") gegen die „liberi muratores", die freien Maurer. Der Papst tadelte vor allem den engen, durch geheime Gelübde besiegelten Zusammenschluß von Menschen "aller Religionen und Sekten", wies auf die große Gefahr hin, die darin für Kirche und Staat angeblich läge, bedrohte jede Begünstigung und Duldung der Freimaurer mit dem Kirchenbann, und forderte den Klerus auf, sich zur Bekämpfung des Beistandes des weltlichen Armes zu bedienen. Die Wirkung dieser Bulle war in den einzelnen Ländern verschieden, am stärksten in Spanien und Portugal; in Frankreich, Österreich und Deutschland geringer.
Mit dieser ersten Kundgebung war die Stellung des Papsttums zu der Freimaurerei ein für allemal festgelegt. Der ersten Bulle ist eine ganze Reihe weiterer gefolgt, die dieselben Argumente in beständig verschärfter Form wiederholen und einem immer größeren Abscheu gegen den Bund Ausdruck geben. Wei1 die Freimaurer Männer verschiedener Konfession zusammenführen, müssen sie ketzerische Gedanken haben; ja das innige Lebensbündnis, das hinter den verschwiegenen Logenmauern geschlossen wird, kann nur unmoralische, widergöttliche Zwecke haben; die Rechtschaffenheit und Menschenfreundlichkeit der Freimaurer, die man leider nicht leugnen kann, muß falscher Schein und Heuchelei sein. Das ist die immer wiederkehrende Beweisführung in den päpstlichen Erlassen. - Diese Haltung der Kirche, die von ihrem Standpunkt aus verständlich ist, hat die Ausbreitung der Freimaurerei wohl kaum gehindert; aber sie hat in den romanischen Ländern der Freimaurerei eine Kampfstellung aufgenötigt, die für das innere Leben der Logen unheilvoll werden mußte. Der Freimaurerbund ist kein Kampfbund, sondern ein Friedensbund; wenn er streiten und sich wehren muß, büßt er seine beste Eigenschaft: die freudige Bejahung alles bauenden, fürsorgenden, liebenden Strebens der Menschen, ein.
Die zweite Schrift ist der Abdruck einer Rede, die der schottische Konvertit Andreas Michael Ramsay am 21. März 1737 in der Pariser Großloge an neuaufgenommene Brüder gehalten hat. Ramsay, "Großredner des Ordens" der Freimaurer, sieht den Zweck des Ordens darin, die Angehörigen aller Nationen einander näherzubringen und das wahrhaft Menschliche in ihnen zu erwecken. Der Orden verlange von seinen Mitgliedern strenge Sittlichkeit und Verschwiegenheit. Er sei den alten Mysterien verwandt, außerdem beschäftigte er sich mit der Vorbereitung eines allgemeinen Wörterbuches aller Künste und Wissenschaften, die Theologie und die Politik ausgenommen. Auch Ramsay will also dem Bunde einen gelehrten Charakter verleihen. Den Ursprung' der Freimaurerei sucht er im Mittelalter.
Die Kreuzfahrer im gelobten Lande hätten sie gestiftet, hätten sich dann mit den "Rittern des h.
Johannes zu Jerusalem" vereinigt und im Abendlande daraufhin den Namen Freimaurer angenommen.
Durch die Religionsstreitigkeiten im sechzehnten Jahr hundert seien die ursprünglichen Formen
entstellt und verstümmelt worden; man müsse sie wieder herstellen und dem Orden dadurch in dem
"wahren Vaterland aller Völker", in Frankreich, zu neuem Glanze verhelfen.
Diese Rede ist vielfach dahin ausgelegt worden, daß Ramsay die Freimaurerei der katholischen
Kirche, zu der er übergetreten war, habe dienstbar machen oder wenigstens katholische Bräuche und
Vorstellungen in die Freimaurerei hineintragen wollen, Ja man h at ihm vorgeworfen, daß er den Bund
nicht nur ins Katholische habe hinüberführen, sondern ihn auch zu politischen Zwecken habe
gebrauchen wollen.
Ramsay war nämlich Erzieher des Prinzen Karl Eduard Stuart gewesen, der den seiner Familie verloren gegangenen britischen Thron zurückgewinnen wollte und durch seinen unglücklichen Zug nach Schottland (1745 / 1746) die Teilnahme Europas auf sich zog. Dieser Prinz galt lange Jahre hindurch für den geheimen Großmeister oder Protektor der Freimaurer, und Ramsay soll derjenige gewesen sein, der im Bunde seine Geschäfte besorgte und die Freimaurer gleichsam zu einem Kreuzzug des wahren katholischen Glaubens unter der Führung der vertriebenen Stuarts gegen das ketzerische England aufzurufen und zu organisieren versucht habe. Aus Ramsays eigenen Worten und Schriften läßt sich diese Ansicht nicht beweisen; wir können aus ihnen nur entnehmen, daß er der Freimaurerei eine feste. religiöse Grundlage und wissenschaftliche Aufgabe geben wollte, da ihm die etwas äußerliche und allzu weltliche englische Freimaurerei nicht zusagte. Andererseits ist es eine Tatsache, daß sich seit Ramsays Rede im Bunde eine Hinneigung zum Katholizismus bemerkbar machte, und daß die Sagen und Meinungen über den. Ursprung der Freimaurerei, die von nun ab in den Vordergrund traten, sich an Ramsays Herleitungen anschlossen.
Das Mittelalter wurde das gelobte Land freimaurerischer Geschichtskonstruktion uni die Frage, woher
die Freimaurerei gekommen sei und wo ihr wahres Ziel und Arbeitsfeld, liege, wurde in der nächsten
Zeit mit einer Leidenschaft erörtert, die uns ganz eigentümlich berührt. Während die englischen
Freimaurer nie das Gefühl verloren, daß sie ein Verein von Baukünstlern, daß sie die geistigen
Nachfolger der Maurer, und Steinmetzzünfte seien, infolgedessen den Maurerschurz als das höchste
Ehrenzeichen ansahen, dessen Verleihung an den Freimaurerlehrling mehr bedeute als die Dekorierung
mit den vornehmsten und ältesten Orden, wollten die französischen Freimaurer jetzt vor allem "Ritter"
sein (Chevaliers). Sie gaben sich alle Mühe, den Namen Freimaurer und die ganze
Handwerkssymbolik umzudeuten, oder wo das nicht gelingen wollte, das Maurerwesen als eine
Vorstufe oder Vorhalle des eigentlichen Bundeswesens und Ordenszweckes darzustellen. Man
erklärte: die Handwerksbräuche und ~ausdrücke seien "Hieroglyphen", hinter denen sich etwas ganz
anderes, etwas weit Vornehmeres und Mysteriöseres verberge, Das war insofern nicht ganz unrichtig,
als sich in den maurerischen Symbolen in der Tat etwas Tieferes und Allgemeineres spiegelt: sie
versinnbildlichen urmenschliche Gefühle und hängen zweifellos mit älteren Bundesformen.
Wahrscheinlich orientalisch-griechischen und keltisch-germanischen zusammen. Aber über die Art dieses Zusammenhanges und über den geschichtlichen Weg, den diese Symbole bis zur Freimaurerei zurückgelegt haben, wissen wir nichts Bestimmtes. Was die französischen Freimaurer und ihre deutschen und schwedischen Schüler darüber behaupteten und dokumentarisch belegen wollten, war Phantasie und "Staub". Man ging aber noch weiter und baute auf die englische Freimaurerei eine angeblich höhere und geheimnisvollere Freimaurerei auf. Im englischen Bunde hatten sich drei Grade oder Stufen herausgebildet, die man nach Ablauf gewisser Fristen erstieg; zuerst wurde man Lehrling, dann Geselle, endlich Meister. Hiermit begnügten. sich die Franzosen nicht; sie schufen noch weitere Stufen oder Abteilungen, zu denen sie die geeigneten Bewerber, meist gegen hohe Gebühren, schrittweise zuließen. Die Zahl dieser höheren Ordensgrade vermehrte sich, nachdem einmal die Bahn gebrochen war, rapid. Eine Fülle von Phantasie wurde aufgewendet, um immer wieder etwas Neues ausfindig zu machen und tiefere Erkenntnisse, größere Ehren, eine gewähltere Gesellschaft zu verbeißen.
Es handelte sich nicht nur darum, neue Namen und Einweihungsrituale zu ersinnen, man mußte auch eine einleuchtende, Entstehungsgeschichte für jeden neuen Grad, ja eine andere Erklärung für den ganzen Orden ersinnen, um die weitere Stufe zu rechtfertigen. Und anspruchsvollere Gemüter wollten doch auch eine höhere "Wahrheit", eine tiefere und geheimnisvollere Ausdeutung von Welt und Leben empfangen. Alles das leisteten die damaligen französischen Freimaurer - die Namen der führenden Geister sind uns meist nicht bekannt; wieweit Ramsay beteiligt ist, läßt sich nicht mehr feststellen - mit unleugbarem Geschick. Es gelang ihnen, eine ganze Reihe von Systemen oder selbständigen Orden ins Leben zu rufen, ihnen den Anschein höchsten Alters zu geben und einen großen Teil der Freimaurer aller anderen Länder, England nicht ausgeschlossen, für die so reformierte und bereicherte Freimaurerei zu gewinnen. Die fremden Brüder lernten das französische Bundeswesen durch Besuche im Lande und durch Schriften, die massenweise auf den Markt gebracht wurden, kennen.
Sie führten es voll Begeisterung bei sich zu Hause ein, wobei denn mancherlei Abänderungen und teils freiwillige, teils unfreiwillige Umbildungen des französischen Lehngutes nicht ausblieben. Zwei Richtungen sind in dem französischen Hochgradwesen zu unterscheiden, die allerdings manche Berührungspunkte hatten und sich in den ausländischen Nachbildungen vielfach eng verknüpften: erstens das mehr äußerliche, auf Glanz, reiche Kostüme, hohe Titel bedachte Ritterwesen, zweitens die mehr nach innen gekehrte, schwärmerisch, mystische Richtung. Letztere schloß sich an die aus dem 17. Jahrhundert überkommene Rosenkreuzerische Bewegung an, die theosophischen und alchemistischen Ideen huldigte; auch Swedenborg, St. Martin und andere bedeutende Mystiker wirkten auf die Freimaurerei ein, Auf die erstere Richtung kommen wir später noch zurück.
Wie weit auch kirchliche Mystik und Dogmatik die damaligen Systembildner beeinflußt hat und ob, wie damals viele glaubten und noch heute manche Forscher festhalten, die kirchlichen Orden, zumal der Jesuitenorden, ihre Hand mit im Spiele hatten, ist eine offene Frage. Auch der Einfluß der Stuartpartei und die angeblich geheime Ordensleitung des Prinzen Karl Eduard ist strittig. (Vgl. Keller: Die Tempelherren und die Freimaurer" und die gleichnamige Gegenschrift Begemanns, 1906). Wie aber wirkte das alles auf das freimaurerische Bundesleben ein? Wie gestaltete sich das Leben und Treiben in den so gründlich umgebildeten Logen? In gewissem Sinne war die Wirkung nicht ungünstig. Die Freimaurerei erhielt einen höheren Schwung, englische Nüchternheit und Philistrosität wurde zurückgedrängt; der Bund gewann Teil an dem gesamten Streben und Sehnen Europas.
Man kann ohne Übertreibung sagen, daß die Franzosen die Freimaurerei zu einem Hauptorgan aller Geistesströmungen des achtzehnten Jahrhunderts gemacht haben oder wenigstens sie befähigt haben, ein solches Hauptorgan zu werden. Romantik und Aufklärung, Mystik und Skeptizismus, Sehnsucht nach vergangenen Idealen und Dräng in die Zukunft - alles, was im achtzehnten Jahrhundert so widerspruchsvoll neben, und gegeneinander wirkte, fand Ausdruck in der Freimaurerei. Rousseaus Naturevangelium eroberte sich ebenso wie Voltaires deistische Weltbetrachtung Heimatrecht in französischen Logen. Noch als Greis ließ sich Voltaire in die Pariser Loge Neuf Soeurs, die der Astronom de Lalande gestiftet hatte, aufnehmen. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, das Dreigestirn, das in den echten freimaurerischen Urkunden mit maßvoller Beschränkung auf das geistige und symbolische Gebiet zu gerechter Geltung gebracht worden war, erhielt in manchen französischen Logen eine viel weitere und realere Bedeutung. Niemand kann zweifeln, daß die französische Freimaurerei den Boden für die große gewaltsame Umgestaltung der Nation am Ende des Jahrhunderts hat ebnen helfen.
So schwärmerisch und skeptisch, so phantastisch und politisch-real wie das französische Freimaurertum, war auch die französische Revolution. Aber gänzlich falsch ist die Annahme, daß die französischen Logen die Revolution organisiert und als eine Art Komitee tatsächlich geleitet hätten. Nein, da überschätzt man doch ihre Macht bedeutend. Im Gegenteil, die Logen litten, als die Bewegung offen ausbrach, aufs schwerste. Die meisten stellten ihre Arbeit ganz ein; viele Freimaurer kamen aufs Schafott. Nur mit Mühe sammelten sich nach Rückkehr geordneter Zustände die zerstreuten Brüder. Wir wenden uns nach Deutschland. Wie erwähnt, kam die Freimaurerei in alle anderen Länder zunächst aus England. Auch Deutschland wurde mit dem neuen Bunde durch Englandreisende bekannt, die die Freimaurerei in die deutsche Heimat mitbrachten. In den dreißiger Jahren tauchen die ersten Spuren auf. Um das Jahr 1740 waren zahlreiche Logen in verschiedenen Städten im Werden.
Allen voran ging anscheinend Hamburg (Näheres bei Fr. Kneisner: Geschichte der deutschen
Freimaurerei in ihren Grundzügen, 1912. Ferdinand Runkel: Geschichte der Freimaurerei in
Deutschland, 3 Bände, 1932). Daß die englischen Vorbilder als maßgebend galten, beweist uns die
Benutzung des Andersonschen Konstitutionenbuches. 1741 erschien es in deutscher Übersetzung, und
zwar hatte man die zweite erweiterte Ausgabe vom Jahre 1738 mit der angehängten Defence zugrunde
gelegt, hatte auch die "Zergliederte Freimaurerei" hinzugefügt. Die Rituale, die in dieser Schrift
veröffentlicht worden waren, verwendete man in den deutschen Logen. Es war also alles wie in
England. Aber schon kurz darauf beginnt Frankreich einzuwirken. Schon einige Jahre vorher (1738)
war eine Schrift "Gründliche Nachricht von den Frey-Maurern" in Frankfurt herausgekommen, die
außer dem Konstitutionenbuch (nach der ersten Ausgabe) und anderen englischen Dokumenten und
sonstigen Nachrichten auch Mitteilungen über die französische Freimaurerei enthielt und die
"Relation" mit abdruckte. Dadurch hatte man in Deutschland die Reformwünsche der französischen
Freimaurer kennen gelernt und auch von den Angriffen erfahren, die der Bund in Paris, ähnlich
übrigens auch in Amsterdam, zu bestehen hatte. Auch bediente man sich in einigen deutschen Logen
der französischen Sprache.
Aber der Einfluß Frankreichs blieb zunächst äußerlich. Wir besitzen einige deutsche Reden, die in Logen jener ersten Zeit gehalten worden sind. Die bekannteste unter ihnen ist die des Frankfurter Legationssekretärs Steinheil, die französisch und deutsch gedruckt wurde und von dem Verfasser auch in der Londoner Großloge (am 10. März 1741) vorgetragen worden ist. Steinheil ergeht sich in moralischen Betrachtungen über das menschliche Leben, über die Notwendigkeit einer festen und doch freien Gemeinschaft. Die Maurerei ist das Bild einer solchen Gemeinschaft. Die Bausymbolik gibt uns Anleitung, unser sittliches Leben aufzubauen, was Steinheil geist- und gemütvoll ausführt. Die drei "Pfeiler und Schwibbogen" der Maurerei sind ihm das Geheimnis (d.h. die Verschwiegenheit), das Sittengesetz (Tugendliebe) und die gute Gesellschaft (Aufrechterhaltung eines guten Betragens und Vermeidung störender z. B. politischer Gespräche).
Die wichtigste Vorbedingung ist: "Die Leidenschaften zu bemeistern." - Diese Rede zeigt deutliche Anklänge an die englische Auffassung der Freimaurerei. Die Fragen und Pläne, die die französischen Freimaurer beschäftigten, treten für den deutschen ganz zurück. Er hält sich an den menschlich-sittlichen Kern in der freimaurerischen Bundesidee und sucht in die Bedeutung der Maurersymbolik einzudringen. Das ist ein schöner, vielversprechender Anfang der deutschen Freimaurerei! Für das Ansehen und die äußere Stellung des Bundes, aber auch für die Aufnahme der Freimaurerei in der deutschen Geisteswelt war es entscheidend, daß sich Friedrich der Große gleich nach seiner Thronbesteigung (1740) als Freimaurer bekannte und den Bund ausdrücklich unter seinen Schutz stellte. Friedrich war zwei Jahre vorher in verschwiegener Nacht zum Freimaurer gemacht worden. Im August 1738 hielt sich der königliche Hof in Braunschweig auf; eben dort traf nach vorheriger Verabredung eine Abordnung der Hamburger Loge Absalom ein und nahm den jungen, genialen, allen freien und zukunftsreichen Gedanken begeistert zugetanen Kronprinzen, in der Nacht vom 14. zum 15. August im Gasthof Korn unter Beobachtung aller maurerischen Bräuche zum Bundesbruder auf.
Friedrich war von dem, was er gesehen und gehört hatte, so eingenommen, daß er bald darauf unter
den nötigen Vorsichtsmaßregeln zwei Freimaurer, darunter den Baron Bielfeld, der uns alle Vorgänge
genau beschrieben hat, zu sich kommen ließ. Als junger Monarch hielt er selber Logenversammlungen
ab und führte seine fürstlichen und nichtfürstlichen Freunde dem Bunde zu. Das machte in
Deutschland großen Eindruck, so daß sich viele Frei, und Hochdenkende aus dem Adel und den
geistigen Kreisen der neuen Vereinigung zuwandten.
Indessen zeigte sich bald, daß die moralische Biederkeit und freundschaftliche Geselligkeit, die man
nach englischem Vorbild in den Logen pflegte, den deutschen Freimaurern ebensowenig genügte wie
den französischen. Als die erste Begeisterung verflogen war, begann der eine Teil zu erkalten, der
andere horchte auf die französischen Neuerungen. Zu denen, die sich zurückzogen und die freimaurerische
Sache sich selber überließen, gehörte auch Friedrich. Das mag zum Teil auch daran
gelegen haben, daß ihm die Zeit zu weiterer Mitarbeit fehlte. Seinen Schutz und sein Wohlwollen hat
er der Brüderschaft nie entzogen. Andere Fürsten und Herren, so besonders der große Feldherr und
Menschenfreund Ferdinand von Braunschweig, machten die Umgestaltung des Bundes nicht nur mit,
sondern setzten sich sogar an die Spitze der von Frankreich her angeregten Bewegung.
Die ganze zweite Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts ist von diesen Entwicklungskämpfen eingenommen. In Deutschland nahm man die freie maurerischen Dinge noch weit ernster als in Frankreich, kam infolgedessen zu besseren und weniger gewaltsamen Ergebnissen. Das erste war das Ritterwesen. Man machte aus dem Freimaurerbunde einen Ritterorden und stellte sich allen Ernstes die Aufgabe, den Tempelherrenorden, der auf so blutige und schmähliche Weise Zugrunde gegangen war, in seinem alten Glanze wieder aufzurichten. Die nähere Ausgestaltung dieses phantastischen Planes verdankte man hauptsächlich einem Freiherrn von Hund und einem dunklen Abenteurer, der sich Johnson nannte. Eine geheime, durch strengen Gehorsam gebundene, von einem unbekannten Oberen geleitete Ritterschaft sollte sich über Deutschland, ja über die ganze Welt ausbreiten und gegen alles Böse, Unchristliche und Gemeine zu Felde ziehen, um die Menschheit einer glücklichen Eintracht zuzuführen.
Juden und Freigeister schloß man von dieser Gemeinschaft aus,
Herren von vornehmen Geschlecht bevorzugte man. Leider blieb man bei der Ausführung des Planes
in den Äußerlichkeiten, in historischen und Kostümfragen stecken; auch bedachte man nicht den
völligen Wandel der Kulturverhältnisse seit der gepriesenen Ritter- und Kreuzfahrerzeit, daher verlief
alles im Sande. Man hatte nur viel Geld vertan und schön geträumt.
Zweitens wollte man sich die geheimen~ Kräfte der Natur dienstbar machen, wollte den Stein der
Weisen finden, mit Geistern in Verkehr treten und sich betend und schwärmend zur Gottheit erheben.
Auch hier aber vergaß man, daß die Zeiten sich geändert hatten und daß die Magie und Alchemie nicht
mehr als Wissenschaft betrieben werden können, jedenfalls nicht von einer buntgemischten, geheimnisdurstigen
Gesellschaft von Laien. Überdies geriet diese freimaurerische Richtung ganz in das
Fahrwasser einer dumpfen, unfreien Frömmelei und übertrieb die Verschwiegenheit und die Unterwerfung
unter die leitenden Persönlichkeiten so sehr, daß die Enttäuschung, die den erregten Erwartungen
folgte, noch größer und beschämender war als bei den freimaurerischen Tempelrittern. Zwei Systeme
mit einer verschiedenen Zahl von Graden hatten diese Richtung hauptsächlich gepflegt: die Gold- und
Rosenkreuzer und die sogenannten Asiatischen Brüder, die ihre, Herkunft von den sieben
angeblichen Johanneischen Urgemeinden in Kleinasien ableiteten.
Nachdem man auf diese Weise der romantischen Sehnsucht reichlichen Tribut gezahlt und sich von
Abenteurern und Schwindlern an der Nase hatte herumführen lassen, gewann eine dritte Richtung
vorübergehend weite Verbreitung: der Illuminatismus. Der antijesuitische, den Idealen der
französischen Aufklärung ergebene Illuminatenorden hatte zunächst mit der Freimaurerei nichts zu
tun. Aber seinem eifrigsten Apostel, dem Freiherrn von Knigge, einem in alle freimaurerischen
Versuche und Verirrungen verflochtenen Mann, gelang es, viele hervorragende Freimaurer für den
Orden zu erwärmen, Jedoch nur für kurze Zeit. Auch hier stand die allzu weit getriebene Geheimtuerei
einem dauernden Erfolg im Wege.
Auch widerstrebte der ausgesprochene Kampfzweck des Illuminatismus dem freimaurerischen Gedanken so heftig, daß ein schneller Zusammenbruch unvermeidlich war.
Im einzelnen können wir hier diese Entwicklungkämpfe nicht schildern. Sie finden sich in zahlreichen freimaurerischen Werken, Monographien und Gesamtdarstellungen beschrieben, die vollständig verzeichnet sind in der großen "Bibliographie" der freimaurerischen Literatur von Wolfstieg (3 Bände 1911-13 Hopfer, Burg bei Magdeburg), auf die wir den Leser ein für allemal verweisen wollen.
Wir wollen hier nur noch betonen, daß man sich hüten möge, die Männer, die sich damals in der Freimaurerei betätigten und den genannten Irrtümern erlagen, für Schwachköpfe und Toren zu halten. Nein, es waren sehr tüchtige und tief, blickende Männer darunter, auch Gelehrte, wie denn z. B. der berühmte Anatom Sömmering und der Weltreisende Georg Forster in ihren jungen Jahren begeisterte Rosenkreuzler und Goldmacher waren. Zu den Illuminaten gehörten unter anderen auch Goethe und Herzog Karl August.
Insbesondere aus den höheren Ständen der Beamten und Offiziere waren viele beteiligt. In den Logen herrschte reiches Leben und frische Bewegung. In der Öffentlichkeit beschäftigte man sich sehr eifrig mit dem Bunde: er bildete ein Hauptgesprächsthema in allen gebildeten Kreisen; bald nahm man gegen ihn, bald für ihn Partei. Eine große Zahl von Romanen, die heute meist verschollen sind, damals aber viel gelesen wurden, behandelte die Freimaurerei oder ähnliche, teils wirklich bestehende, teils erdachte Gesellschaften und geheime Orden. Wir brauchen nur an Goethes Wilhelm Meister zu denken, wo ebenfalls ein geheimnisvoller' Bund im Hintergrunde waltet, der einen segensvollen Einfluß auf die Geschicke der Personen und auf die Handlung des Romans ausübt.
In dieser Weise dachten sich damals viele und nicht die schlechtesten Männer den tatsächlichen oder wünschenswerten Einfluß der Freimaurer. Man vermutete oder wünschte, daß unsichtbare Fäden, die in einer unerforschlichen Zentralstelle zusammenliefen, das ganze Leben, Lernen, Denken und Handeln der Zeitgenossen und wohl gar auch der Staaten und Kirchen leiten möchten. Der Jesuitenorden, der damals (1773)aufgehoben wurde, hatte, wie man meinte, eine solche leitende Zentralstätte gebildet, aber zum Unheil der Welt. Ihm wollte man ein freies helles Gegenbild gegenüberstellen.
Eine geheime Oberbehörde für die Ideale der Zeit zu schaffen, und falls sie schon irgendwo vorhanden, sie aufzusuchen, sich ihr zur Verfügung zu stellen und mit ihr gemeinsam zu wirken - das war damals das Sinnen und Trachten der Besten. Dies 'Verlangen führte viele zur Freimaurerei, ließ sie in der Freimaurerei nach höheren Graden und nach kleineren Zirkeln von Wissenden und Leitenden forschen, trieb sie zur Gründung neuer Systeme, zur Umdeutung der überlieferten Bundesdokumente, zur Durchforschung älterer Zeiten, um die wahren Gründer und Ahnherren der Freimaurerei ausfindig zu machen und den jetzigen Bund zu seiner vermuteten ursprünglichen Hoheit und Macht zurückzuführen. Zweifellos hatten nicht alle Systemgründer und Mythenerzähler so edle Motive.
Wir wissen, daß höchst bedenkliche Personen sich damals mit der "Wiederherstellung" der Freimaurerei und mit Begründung. von neuen freimaurerischen oder an die Freimaurerei sich anlehnenden Gemeinschaften abgaben, darunter z. B. der Graf Cagliostro, der Hallische Professor und Kaffeewirt Bahrdt, der Darmstädter Konsistorialrat Joh. August. Starck, um von Hochstaplern wie Johnson, Gugomos, Schrepfer, Grossinger und anderen zu schweigen. Aber die Männer, die ihnen glaubten und folgten oder auch eigene Reformpläne in der Tasche hatten, waren zum großen Teil von reinem Idealismus beseelt. Sie fühlten ganz richtig, daß in der Freimaurerei eine tiefe, befreiende, menschenverbindende Kraft lag und sie glaubten, daß man aus den freimaurerischen Bundesformen eine Organisation entwickeln könne, die alles Sehnen der damaligen Menschheit stillen könne.
Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts hat es in der deutschen und wohl auch in der Weltfreimaurerei
niemals wieder "unbekannte Obere" gegeben. Der merkwürdige Gedanke, daß die irdischen Dinge
von geheimen, unerforschlichen Mächten geleitet werden, hat nur in der Religion seine Berechtigung.
Gott allein und seine unsichtbaren Sendboten oder Kraftströme sind die das All durchdringenden
geheimen Oberen. Sie bleiben den Menschen in ihrem Ursprung und in ihrem Wege zu uns verborgen.
Keine Forschung und keine Offenbarung kann den Schleier von diesen letzten Geheimnissen
hinwegziehen. Kein Hoch, grad und keine angebliche Kunde aus verschollenen Zeiten kann uns Ersatz
bieten für die "Stimme" die uns so nahe ist und von jeher die sicherste Richtschnur füp unser Handeln
gebildet hat.
Wer heute noch behauptet, daß die Freimaurer unbekannte Obere hätten, denen sie blind gehorchten und von denen sie sich selber und ihre gesammelten Gelder zu undurchsichtigen Zwecken mißbrauchen ließen, der ist im Irrtum oder macht sich einer Irreführung schuldig. Die Erfahrungen, von denen ich soeben kurz erzählt habe, waren den Freimaurern für alle Folgezeiten eine heilsame und ausreichende Lehre.
Diese Lehre war wie alle derartigen, durch die Erfahrung gewonnenen Einsichten hart und bitter. Es
trat zunächst eine Enttäuschung und Ermüdung ein. Man wurde inne, daß man nicht vorwärts kam,
sich vielmehr von dem Ziele immer weiter entfernte. Statt der erhofften Freiheit herrschte die Tyrannei
unkontrollierter Einzelner. Die verschiedenen Systeme verketzerten sich gegenseitig, verweigerten
einander die Anerkennung oder stritten um die Führung im Bunde. Eitelkeit und Intrige machten sich
breit; viele wandten sieh ernüchtert ab; es schien ihnen, als hätten sie einem Phantom nachgejagt, als
wären sie aus einem Rausche erwacht.
So endigte die große Bewegung mit einem schweren Mißerfolg. Man stand von neuem vor der Frage,
mit der man begonnen hatte: was ist die Freimaurerei? Hat sie überhaupt einen Wert? Worin ist er zu
suchen? Diese Fragen, die alle treu gebliebenen Freimaurer tief beunruhigten, da von ihnen der
Fortbestand des Bundes abhing, suchte die freimaurerische Philosophie, die eben damals ihre
Schwingen entfaltete, zu beantworten.
Die Freimaurerische Philosophie
Fast nur in Deutschland haben sich ernste Denker um die Freimaurerei bemüht. In den anderen Ländern hat man zwar auch die soeben geschilderten Entwicklungskämpfe gespürt; alle europäischen Länder nahmen, wie ich schon erwähnte, mit oder nach der englischen Freimaurerei auch die französische auf; ja auch die deutsche Freimaurerei, insbesondere das Tempelherrensystem der sogenannten strikten Observanz hat weit über Deutschlands Grenzen hinaus nach allen vier Himmelsrichtungen gewirkt; - aber nirgends wurde die Freimaurerei so innerlich gefaßt und so tief durchgedacht wie in Deutschland. Die freimaurerische Philosophie war und blieb deutsches Eigentum. Den Reigen eröffnet Lessing.
Einem so scharfsinnigen Manne wie Lessing. der alle geistigen Vorgänge und Erscheinungen seiner Zeit mit Aufmerksamkeit verfolgte und der mit einem unbestechlichen kritischen Blick eine warme und tiefe Begeisterung für alles echt Menschliche verband, konnte die freimaurerische Bewegung nicht entgehen. Er hat ihr ein kleines, meisterliches, an Platons Dialoge gemahnendes Schriftchen gewidmet, das unter dem Titel "Ernst und Falk. Gespräche für Freymäurer" in den Ausgaben seiner Werke sieht. Wir geben den Inhalt in Kürze wieder: An einem schönen Morgen sitzen zwei Freunde, ein älterer und ein jüngerer, im Garten, genießen die erquickende Luft und unterhalten sich von hohen Dingen. Ihr Gespräch wendet sich unwillkürlich dem in jener Zeit aktuellsten Gegenstande zu, der Freimaurerei. Falk gehört dem Bunde seit langem an; Ernst will wissen, was an der geheimnisvollen Sache ist. Falk erklärt: die Sache sei nicht so geheimnisvoll; man könne durch eigenes Nachdenken ebensowohl darauf kommen wie durch Anleitung; denn die Freimaurerei sei etwas Notwendiges, das in dem Wesen des Menschen und der bürgerlichen Gesellschaft gegründet sei. In Worte sie zu fassen, sei allerdings unmöglich; nur durch Taten sei sie ausdrückbar und übertragbar. Ernst ist durch diese Antwort nicht befriedigt.
Er erkennt zwar an, daß die Freimaurer viel Gutes tun und helfen, wo Hilfe not tut, aber um dergleichen zu tun, brauche man doch nicht Freimaurer zu sein. Falk erwidert, diese Taten, so schön sie seien, habe er auch nicht gemeint; er fügt hinzu: "Die wahren Taten der Freimaurer sind so groß, soweit aussehend, daß ganze Jahrhunderte vergehen können, ehe man sagen kann: das haben sie getan! - Gleichwohl haben sie alles Gute getan, was noch in der Welt ist, - merke wohl: in der Welt ! Und fahren fort, an all dem Guten zu arbeiten, was noch in der, Welt werden wird, - merke wohl: in der Welt !"
Ernst. O geh! Du hast mich zum besten. Falk. Wahrlich nicht. - Aber sieh! dort fliegt ~~in Schmetterling, den ich haben muß. Es ist der von der Wolfsmilchraupe, - Geschwind sage, ich dir noch: die wahren Taten der Freimaurer zielen dahin, um größtenteils alles, was man gemeiniglich gute Taten zu nennen pflegt, entbehrlich zu machen.
Ernst. Und sind doch auch gute Taten? Falk. Es kann keine bessere geben. - Denke einen Augenblick darüber nach! Ich hin gleich wieder bei dir. - Nach dieser Einleitung geht Lessing auf das Thema selber ein. Falk fordert Ernst auf, das Leben eines Ameisenhaufens zu betrachten. Da ist Fleiß und Ordnung, und doch merkt man nichts von Regierung und Zwang. Ob die Menschen wohl je zu einem solchen Zustand organischen Zusammenlebens kommen werden?
Die Staatsverfassungen sind Mittel zur menschlichen Glückseligkeit, aber unvollkommene Mittel.
Auch die allerbeste kann nicht verhindern, daß die Interessen der verschiedenen Staaten und
Staatengruppen in Kollision kommen, kann auch nicht das Neben, und Gegeneinander von
widersprechenden Gewohnheiten, Sittenlehren, Religionen verhindern, ebensowenig den Gegensatz
der Stände und Besitzverhältnisse. Daraus folgt, daß alle Einrichtungen der menschlichen Gesellschaft,
mögen sie auch noch so gut und gerecht ausgedacht werden, die Menschen nicht bloß verbinden,
sondern zugleich trennen und veruneinigen; denn sie ziehen den Menschen gleichsam verschiedene
Kleider an und verhüllen dadurch ihre natürliche Gleichartigkeit. Ernst fragt: "willst du mir dadurch
das bürgerliche Leben verleiden?
Mich wünschen machen, daß den Menschen der Gedanke, sich in Staaten zu vereinigen, nie möge gekommen sein?" Falk verwahrt sich dagegen. Bei noch weit größeren Übeln müßte man doch die staatlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen segnen. Aber, meint er, man muß doch wünschen, die üblen Nebenwirkungen nach Möglichkeit zu verringern. Man muß wünschen, daß sich Männer finden, die Hand an die "Trennungen" legen und sich für ihre Person über die Vorurteile der Völkerschaft, der angeborenen Religion, der Standesgegensätze hinausheben. Und wenn es, fährt Falk fort, dergleichen Männer wirklich gäbe? Und diese Männer nicht in einer unwirksamen Zerstreuung lebten? nicht immer in einer unsichtbaren Kirche?
Ernst. Schöner Traum!
Falk. Daß ich es kurz mache - und diese Männer die Freimaurer wären?
Ernst. Was sagst du?
Falk. Wie, wenn es die Freimaurer wären, die sich mit zu ihrem Geschäfte gemacht hätten,
jene Trennungen, wodurch die Menschen einander so fremd werden, so eng als möglich
wieder zusammenzuziehen?...
Nun ist Ernsts Neugierde, aufs höchste gespannt. Er verfolgt Falk, der nach diesen Worten abbricht und sich dem Freunde den ganzen Tag im Gedränge der Gesellschaft entzieht, in sein Schlafzimmer. - Wie kannst du mir beweisen oder wenigstens wahrscheinlich machen, daß die Freimaurer wirklich Jene großen und würdigen Absichten" haben? fragt er. Falk weicht aus: er habe nur von einem "Vielleicht" gesprochen, habe nur an einem Beispiel zeigen wollen, daß es noch "baubedürftige Plätze" gibt, daß noch nicht alle nötigen Arbeiten unter die erforderlichen Hände verteilt sind, daß also für eine Baugesellschaft hier ein würdiges Feld der Tätigkeit offen sei, Auch betont er noch einmal, daß die Freimaurer sich unter keinen Umständen mit dem Kampf gegen bestimmte Staatsverfassungen oder Religionen oder soziale Einrichtungen abgeben dürften, wenigstens nicht als Freimaurer.
Es handle sich um etwas ganz anderes, was dann Ernst auch richtig erkennt. Nicht einmal den Ausdruck "Entgegenarbeiten" will Falk gelten lassen; nur von dem Pflanzen und Verstärken gewisser Empfindungen sei die Rede, nur eine neue, höhere, Trennungen überwindende Gesinnung bemühten sich die Freimaurer in geduldiger Jahrhunderte beanspruchender Arbeit in die Menschheit einzusenken. Und woraus schließest du, wiederholt Ernst seine Frage, daß den Freimaurern wirklich etwas Derartiges vorschwebt? Aus einem freimaurerischen Grundgesetz, sagt Falk, aus dem sie nie ein Geheimnis gemacht und nach welchem sie immer vor den Augen der ganzen Welt gehandelt haben.
Dies Gesetz ist, daß sie „jeden würdigen Mann von gehöriger Anlage ohne Unterschied des Vaterlandes, ohne Unterschied der Religion, ohne Unterschied seines bürgerlichen Standes, in ihren Orden aufnehmen". Dabei scheinen sie sich allerdings einer "List" zu bedienen, indem sie nämlich vorauszusetzen scheinen, daß die Männer, die mit ihnen zusammentreten, bereits die Eigenschaften besitzen, die doch im Orden erst gebildet und entwickelt werden sollen, Sie tun, als sei das schon vorhanden, was doch erst zu schaffen ist; sie verbergen, indem sie jenen Grundsatz offen kundgeben, den besten und geheimsten Teil ihrer Kunst. Aber Ernst hört den Freund schon nicht mehr. Ihn drängt es, in die Stadt zurückzukehren, um Freimaurer zu werden.
Nach einiger Zeit treffen die Freunde. wieder zusammen. Ernst ist durch die Erfahrungen, die er im Bunde gemacht hat, tief enttäuscht. Vergebens tröstet ihn Falk damit, daß diese Erfahrungen keinem erspart bleiben könnten. Ernst bereut seinen Schritt und erzählt, was für Dinge man in Wahrheit bei den Freimaurern treibe, Wer sich nicht mit Ritualen und verheißenen Aufschlüssen der höheren Grade vertrösten lasse, beschäftige sich mit Goldmacherei, mit Geisterbeschwörung, mit Wiederherstellung des Tempelherrenordens. Falk lächelt dazu und meint, das sei noch kein Beweis, daß sich diese Freimaurer auf falschem Wege befinden müßten. Hinter diesen "Heimlichkeiten" verstecke sich möglicherweise das wahre, große, unsagbare Freimaurergeheimnis.
Da ihn Ernst nicht versteht, erklärt Falk mit Bezug auf die Tempelherren: es gäbe einen Punkt, in
welchem die Tempelherren die Freimaurer ihrer Zeit waren; es sei also nicht so gar töricht, wenn die
Freimaurer ihre Verwandtschaft mit jenem Ritterorden empfänden und dessen Aufgabe gewissermaßen
wieder aufzunehmen strebten, vorausgesetzt, daß sie den rechten Punkt fänden und nicht
lächerlichen Äußerlichkeiten nachjagten. Und auch mit diesen Kindereien solle man Nachsicht haben:
"Kinder werden Männer. - Laß sie nur! - Genug, wie gesagt, daß ich schon in dem Spielzeug die
Waffen erblicke, welche einmal die Männer mit sicherer Hand führen werden."
Ernst sagt nun, sein Unmut richte sich hauptsächlich dagegen, daß über jenen Dingen die Grundsätze,
die ihm Falk gerühmt, ganz vergessen würden. Von wirklicher Gleichheit sei keine Rede; Juden z. B.
würden zurückgewiesen, die Toleranz beschränke sich auf die verschiedenen christlichen
Konfessionen.
Ebensowenig dulde man Handwerker und Dienstboten im Bunde; die "gute Gesellschaft" wolle unter sich bleiben. Falk tadelt das und meint, es sei früher nicht so gewesen; indessen müsse man zwischen Freimaurerei und Loge unterscheiden und was diese fehle, nicht jener vorwerfen. Warum? "Weil Loge zur Freimaurerei sich verhält wie Kirche zum Glauben. Aus dem äußeren Wohlstande der Kirche ist für den Glauben der Glieder nichts, gar nichts zu schließen.
Vielmehr gibt es einen gewissen äußerlichen Wohlstand derselben, von dem es ein Wunder wäre,
wenn er mit dem wahren Glauben bestehen könnte. Auch haben sich beide noch nie vertragen, sondern
eins hat das andere, wie die Geschichte lehrt, immer zugrunde gerichtet. Und so auch fürchte ich,
fürchte ich -"
Falk fürchtet, daß es mit den Logen, wenn wirklich solche Übelstände eingerissen seien, auf die Länge
nicht gut gehen werde. Aber, sagt er, vielleicht hat die Vorsehung gerade diesen Weg ausersehen, um
die Freimaurerei in eine neue, schönere Form überzuführen. Vielleicht bereitet sie sich vor, ihre
derzeitige Hülle abzulegen und in veränderter Gestalt vor die Welt hinzutreten. Denn, so fragt er den
erstaunten Ernst: "Du wirst doch nicht glauben, daß die Freimaurer immer Freimaurerei gespielt?"
Worauf Ernst: "Was ist nun das? Die Freimaurer nicht immer Freimaurerei gespielt?" Falk: "Mit anderen Worten! Meinst du denn, daß das, was die Freimaurerei ist, immer Freimaurerei geheißen?" - Hiermit hat Lessing den Übergang zur historischen Erklärung der Freimaurerei gebahnt. Er versucht durch den Mund Falks den auffallenden Abstand zwischen Idee und Wirklichkeit, den damals alle klarblickenden Geister bei der Freimaurerei bemerkten, auf diese Weise verständlich zu machen, daß er Wesen und Verfassung der Freimaurerei trennt, jenes für uralt und unzerstörbar erklärt ("Ihrem Wesen nach ist die Freimaurerei ebenso alt als die bürgerliche Gesellschaft" ... "Es war immer das sicherste Kennzeichen einer gesunden, nervösen Staatsverfassung, wenn sich die Freimaurerei neben
ihr blicken ließ, so wie es noch jetzt das unfehlbare Merkmal eines schwachen, furchtsamen Staates ist, wenn er das nicht öffentlich dulden will, was er insgeheim doch dulden muß, er mag wollen oder nicht..."), dieser dagegen eine bestimmte und beschränkte geschichtliche Geltung zuweist. Die historischen Dokumente der Freimaurerei, die ihm Ernst entgegenhält, lehnt Falk als "Staub" ab und behauptet, daß der Freimaurerbund unter diesem Namen vor dem achtzehnten Jahrhundert überhaupt nicht nachweisbar sei, ja daß das Wort Freimaurer zur Bezeichnung der uralten. Geistesbrüderschaft einem bloßen Mißverständnis seine Entstehung verdanke. Das englische Free-Masonry habe man verwechselt mit dem alten Worte Masony und dadurch aus den "Masonen“, d. h. den Mitgliedern vertrauter Tischgenossenschaften "Maurer", d. h. Baugewerksleute gemacht. Aus den heiligen Tischgenossenschaften, den "runden Tafeln" der alten Zeit, von denen uns Geschichte und Sage des Mittelalters berichtet, sei der Freimaurerbund hervorgegangen. In London habe sich bis ans Ende des vorigen Jahrhunderts eine Tempelherrenmasonei erhalten, deren Mitglied der berühmte Baumeister der Paulskirche, Chr. Wren, war.
Dieser habe die Grundsätze der Masonei teils "exoterisch gemacht", teils "unter die Hieroglyphen und Symbole des Bauhandwerks versteckt" und so, die Freimaurerei geschaffen. Mit dem Versprechen, diese Entstehungsgeschichte demnächst näher zu begründen und den Freund sehen und greifen zu lassen, was er jetzt aus dem Gedächtnis nur schwankend und unbefriedigend ausdrücken könne, schließt Falk das Gespräch ab. "Die Sonne geht unter, du mußt in die Stadt. Lebe wohl!" - Ernst: "Eine andere ging mir auf. Lebe wohl!"
Soweit Lessing! Die angekündigten Nachweise hat er nicht mehr geliefert. Wie hoch sein historischer Erklärungsversuch der Freimaurerei zu bewerten ist, kann der Leser nach den Darlegungen unseres ersten Kapitels leicht ermessen. Uns kommt es weit mehr auf seine sachliche Erforschung und Auslegung der Freimaurerei an. Er erblickt das Wesen der Freimaurerei in der Versöhnung des Getrennten, in der geistig-persönlichen Überwindung der unvermeidlichen staatlichen, religiösen und ständischen Gegensätze. Dieser Gedanke liegt durchaus in der Konsequenz der freimaurerischen Urkunden und des bisherigen Bundesstrebens. Lessing vertieft und klärt, was die Freimaurer von Anfang an in England wie auch in den anderen Ländern gewollt und gemeint hatten, aber nicht deutlich genug hatten ausdrücken, auch nicht folgerecht hatten verwirklichen können.
Seine "Ontologie der Freimaurerei", wie er sein Schriftchen in der Vorrede nennt, dringt in den Kern der Frage ein und öffnet den Weg aus den Schwierigkeiten, in die sich der Bund verwickelt hatte. Freilich über die Zukunft des Bundes als solchen spricht sich Lessing ziemlich skeptisch aus. So hoch er den freimaurerischen Gedanken stellt, um so zweifelhafter ist ihm der Wert der freimaurerischen Form. Wir wissen, daß Lessing an dem Logenleben gar keine Freude hatte. Er ließ sich zwar aufnehmen (am 14. Oktober 1771 in Hamburg), nahm aber an den Versammlungen nicht teil. Diese Doppelstellung: Verehrung für die freimaurerische Sache, Gleichgültigkeit oder Geringschätzung gegen die freimaurerische Genossenschaft, finden wir bei nicht wenigen Denkern und Dichtern jener Zeit. Es war das zum Teil gewiß eine Folge der Irrungen und Wirrungen, die der Bund damals durchmachte.
Auch Herder, der in seiner Jugend in Riga ein eifriges Logenmitglied gewesen war, hat sich später mit Härte gegen geheime Gesellschaften ausgesprochen und erklärt, daß die "Humanität" - so nannte er das freimaurerische Ziel in seinem, Lessing nachgebildeten Gespräch über eine "unsichtbar-sichtbare Gesellschaft" - heutzutage nicht mehr durch eine besondere Korporation mit Gesetzen und Symbolen gefördert werden könnte. In seinen letzten Lebensjahren stand Herder den freimaurerischen Bundesformen allerdings wieder freundlicher gegenüber, ohne jedoch praktische Folgerungen daraus zu ziehen. Der zweite freimaurerische Philosoph, den wir genauer behandeln müssen, ist Fichte. Auch Fichte hat sich nur eine Zeitlang im Freimaurerbunde betätigt. Wegen Mißhelligkeiten persönlicher und sachlicher Art zog er sich zurück. Die Vorträge, die er den Brüdern gehalten hat (in der Berliner Großloge "Royal York" im Frühjahr 1800) wurden von dem Philologen Fischer in Briefform umgearbeitet und in den "Eleusinien des neunzehnten Jahrhundert" (1802/03) veröffentlicht.
Fichte geht, wie alle nachfolgenden freimaurerischen Denker, von Lessing aus, führt aber seine Gedanken weiter. Der Hauptgrund, sagt er, der uns nötigt, der Freimaurerei eine höhere Bedeutung und einen würdigen Zweck zuzuerkennen, ist die einfache Tatsache, daß der Freimaurerbund noch fortbesteht und nicht den Verfolgungen, den Profanierungen seiner angeblichen Geheimnisse und den inneren Kämpfen längst zum Opfer gefallen ist. Er lebt und zählt weise, redliche und ehrwürdige Männer zu seinen Mitgliedern! Daher kann er kein leeres Spiel sein. Aber was ist sein Zweck? Was kann überhaupt der Zweck einer abgesonderten Gesellschaft, an der Weise und Tugendhafte teilhaben, sein? Der Zweck des gesamten menschlichen, Gemeinschaftslebens ist die Ausbildung, Hebung und Erziehung des Menschengeschlechts. Die öffentliche Gesellschaft dient aber diesem Zwecke nur auf Umwegen, indem sie jedem Stande ein bestimmtes Feld der Betätigung anweist und dadurch dem einzelnen wohl eine einseitige, aber keine allgemein menschliche Bildung ermöglicht.
So entsteht Halbheit, entsteht Pedanterie. Dem will die Maurerei entgegenwirken, indem sie Menschen aller Stände und Herkunft zusammenführt. Sie will die Nachteile der einseitigen Berufsausbildung ausgleichen, indem sie die Menschen allseitig als Menschen und zu Menschen bildet. Fichte beschreibt den Freimaurerbund, wie er ihn im Geiste schaut, folgendermaßen. "Hier treten Männer aus allen Ständen frei zusammen und bringen die Bildung, die jeder nach seiner Individualität in seinem Stande erwerben konnte, auf einen Haufen. Jeder bringt und gibt, was er hat: der denkende Kopf bestimmte und klare Begriffe, der handelnde Mann Fertigkeit und Leichtigkeit in der Kunst des Lebens, der Religiöse seinen religiösen Sinn, der Künstler seinen künstlerischen Enthusiasmus. Aber keiner gibt es auf dieselbe Weise, wie er es in seinem Stande erhalten hat und in seinem Stande fortpflanzen würde. Jeder läßt gleichsam das Einzelne und Spezielle liegen und holt das heraus, was es als Resultat in seinem Inneren gewirkt hat. Er bestrebt sich, seinen Beitrag so zu geben, daß er an jedes Mitglied der Gesellschaft gelangen könne; und die ganze Gesellschaft bemüht sich, dieses sein Streben zu unterstützen und eben dadurch seiner bisher einseitigen Bildung allgemeine Brauchbarkeit und Allseitigkeit zu geben.
In dieser Verbindung empfängt jeder in demselben Maße, als er gibt; gerade dadurch, daß er gibt, wird ihm gegeben, nämlich die Fähigkeit geben zu können." Das ist der Zweck der Maurerei! Wird er nicht verfehlt, so muß die Wirkung des Bundeslebens auf den einzelnen die sein, daß er menschlich reifer wird, daß sich bei ihm Kraft mit Anmut vermählt, daß Schönheit mit Weisheit und Stärke in den Bund tritt. Der Maurer ist der "vollendete Mensch". Gewiß erreicht keiner von denen, die sich Maurer nennen, diese Vollendung, auch braucht man, um ihr nachzustreben, nicht notwendig dem Orden anzugehören, aber der Orden erleichtert die Annäherung und besitzt die besten Erziehungsmittel, um andere zu diesem Ziele hinzuführen. Hierin liegt auch der Wert, den der Orden für die übrige Welt hat: wer gelernt hat, über seinen Stand hinauszuschauen und nicht nur maschinenmäßig seine Arbeit zu tun, ist für die Gesamtheit wertvoller geworden; er ist Verbesserungen zugänglicher, er weiß seinen Beruf harmonischer in das Ganze einzuordnen und den Forderungen anderer Stände gerecht zu werden.
Ja, er hat in der "“Übungsanstalt für Vielseitigkeit“ noch Höheres ahnend begriffen, nämlich, daß der Endzweck des menschlichen Daseins überhaupt nicht in dieser gegenwärtigen Welt, sondern in einem höheren Dasein liegt. Er weiß, daß der Mensch nur „für die Ewigkeit" arbeitet, daß diese Arbeit aber nicht direkt, sondern nur durch redliche Erfüllung der irdischen Aufgaben, geleistet werden kann. Demgemäß ist dem Maurer "die Religiosität nichts Isoliertes und für sich Bestehendes, so daß man in der Frömmigkeit sehr stark, im übrigen aber sehr schwach, sehr zurück und ein schlechter Mensch sein könne. Die Religion ist ihm kein Gegenstand, sondern nur der Äther, in welchem ihm alle Gegenstände erscheinen.
Sein Sinn ist immer
in der Ewigkeit, seine Kräfte sind immer bei Euch". Ähnlich ist sein Verhältnis zum Staate. Wohl steht
ihm beständig das Ziel vor Augen, daß die ganze Menschheit einst einen einzigen, durchaus
rechtlichen Staat ausmachen soll; aber seine Kraft gehört seinem Volke und dem Fleckchen Erde, in
dem er lebt. "Vaterlandsliebe ist seine Tat, Weltbürgersinn ist sein Gedanke." Ein Kosmopolitismus,
der für sich bestehen will und den Patriotismus ausschließt, dünkt ihm verkehrt, nichtig und töricht. Er
gehorcht den Gesetzen und Aufträgen des Staates und "nur darin ist er von denen, die aus Furcht oder
Vorteil oder Gewohnheit gehorchen, verschieden, daß er alles tut, lediglich für das Weltganze und um
des Weltganzen willen".
Im Hinblick auf das große Ziel, alles bloß Mechanische und Vernunftlose der Herrschaft des Willens und der Vernunft zu unterwerfen, ist ihm jede Arbeit, die mit Treue getan wird, verehrungswürdig. Ein Landbauer oder Handwerksmann, der um seiner Pflicht und um des Ganzen willen sein Werk mit wahrer Anhänglichkeit und Aufmerksamkeit treibt, steht in seinen Augen höher als ein unfähiger Gelehrter und ein untauglicher Philosoph. Am Schlusse geht Fichte etwas näher auf die Bundesformen ein und untersucht die Frage, woher die freimaurerische Unterrichtsweise, d.h. die symbolische Erziehung innerhalb der geschlossenen Gesellschaft ihren Ausgang genommen und wie sie sich fortgepflanzt haben möge. Er meint, daß in den freimaurerischen Traditionen doch wohl Wahrheit liegen müsse; daß sich also eine zusammenhängende Kette der geheimen Kultur neben dem Faden der öffentlichen Kultur durch die Jahrtausende bis zur Gegenwart herabschlinge.
In dem hohen Alter der freimaurerischen Symbole und Gebräuche findet Fichte auch ihren Wert gegründet. Man muß die in ihnen verborgene Weisheit sorgfältig aufsuchen und, nachdem man sie entdeckt und an seinem eigenen Verstande -und Herzen bewährt gefunden, sie freudig aufnehmen. Die Frage nach der maurerischen Überlieferung, ihrer historischen und sachlichen Autorität, war es, über die er mit dem hervorragenden Freimaurer Feßler in Meinungsverschiedenheiten geriet. Fichte war sich offenbar über diesen Punkt selber nicht ganz klar und es scheint, daß er zum Teil wegen dieser, in der Tat schwierigen, ja ihrer Natur nach unlösbaren Frage dem Bunde plötzlich und völlig den Rücken wandte.
Die Idee des Bundes sah er so klar und leuchtend wie Lessing vor Augen; aber wie nun diese Idee mit dem bestehenden Bunde und dessen überlieferter Verfassung und Symbolik zusammenhing und zusammen~ stimmte, darüber konnte er so wenig wie Lessing zur Klarheit kommen und gab daher seine Verbindung mit der Freimaurerei resigniert wieder auf, verzichtete also darauf, für die Verwirklichung der Idee und die Ausgestaltung oder Umgestaltung des Bundes im Sinne der Idee praktisch tätig zu sein. Die Kluft zwischen freimaurerischer Philosophie und freimaurerischem Bundesleben blieb unüberbrückt. Hier trat ein dritter Denker in die Lücke: Karl Christian Friedrich Krause. Während Lessing und Fichte der Maurerei nur eine kleine Schrift und eine verhältnismäßig geringe Zeitspanne gewidmet haben, hat Krause umfassende Studien über alle freimaurerischen Probleme gemacht und sich in vieljähriger opferreicher Arbeit als freimaurerischer Philosoph, Geschichtsforscher und Logenredner betätigt. Seine Lebensschicksale sind in enger, und wenn die Gerüchte wahr sind, in unheilvoller Weise mit seiner Zugehörigkeit zum Freimaurerbunde verkettet. Seine treue Anhänglichkeit an den Bund war unerschütterlich. Die Frage nach Wesen, Herkunft und Aufgabe des freimaurerischen Bundes war ihm das Wichtigste; die freimaurerische Form hängt seiner Meinung nach unlösbar mit dem freimaurerischen Gedanken zusammen. Beides zu trennen schien ihm unmöglich. Schon vor seinem Eintritt in den Bund hatte ihn der Gedanke eines allgemeinen Menschenvereines, eines geistig-geselligen Bundes der Bünde beschäftigt. Die Hoffnung, diesen Gedanken verwirklicht oder wenigstens keimhaft vorgebildet zu finden, ließ ihn im April 1805 an die Pforte der Freimaurerei klopfen.
Seine Hoffnung betrog ihn nicht. Die Verfassung und noch mehr die Symbolik, die ihm hier entgegentrat, glaubte er als Trümmer und zugleich als Keime urmenschlicher, alle Gegensätze und Trennungen überwindender Bundesweisheit zu erkennen, und nun ging er mit einem ungeheueren Fleiße, den er auch auf vielen anderen Forschungsgebieten bewiesen hat, daran, die Geschichte der freimaurerischen Bundesrituale und Konstitutionen aufzuhellen und den Wall von Legenden niederzureißen, der sich um das Werden und Wachsen der maurerischen Gemeinschaft herumgelagert hatte.
Er konnte dabei die Forschungen benutzen, die Männer wie Moßdorf, Schneider, Feßler und andere in ähnlicher Absicht begonnen hatten. Seine Ergebnisse legte er in dem Werke: die drei ältesten Kunsturkunden der Freimaurerbrüderschaft (1810 / 13, 2. Aufl. 1819 / 21) nieder. Wir haben es hier nur mit dem Hauptgedanken - in den Einzelheiten sind Krauses Forschungen heute veraltet - zu tun. Krause unterscheidet drei freimaurerische Perioden oder Lebensalter. Die erste reicht bis zum Jahre 1717; der Bund war bis dahin eine Vereinigung der Werkmaurer, hatte aber, wie die drei "Kunsturkunden", die Krause in das Mittelalter verlegt, beweisen, sein Streben schon auf das große geistige Endziel des Bundes gerichtet, denn er stellte eine einfältige, überkonfessionelle Frömmigkeit und eine schlichte Menschenweisheit höher als die kirchlichen, dogmatisch beengenden Lehren. In den drei Kunsturkunden jener schlichten Handwerker ist die "Wesenheit der Masonei und des Masonenbundes" wirklich, obwohl nur als Ahnung dargebildet; bewußtlos und wie im schlummernden Keime liegen ihnen die Urbegriffe und Urbilder der Menschheit, des Menschheitslebens und des Menschenbundes zugrunde.
Diese drei Kunsturkunden (1. das Freimaurerverhör, d. h. eine kurze Darlegung der Freimaurerei in Frage und Antwort; 2. das Aufnahmeritual oder der Lehrlingskatechismus der Alten Maurer; 3. die Yorker Urkunde, ein Legenden- und Pflichtenbuch) werden heute nicht mehr als die "ältesten" anerkannt; aber Krauses Hochschätzung für sie war trotzdem nicht unberechtigt.
Das zweite Lebensalter der Freimaurerei rechnet Krause von der Gründung der Londoner Großloge bis zur Gegenwart; er versteht darunter also den Bund, wie er ihn vorfand und wie ihn Andersons Konstitutionenbuch schildert: eine geschlossene Männervereinigung, die allen Ständen zugänglich ist und sich in eine verschiedene Zahl von Graden und Systemverbänden teilt. In dieser zweiten Form ist vieles schon klarer und freier als in der ersten;' aber es haftet ihr nicht Krauses Meinung noch zu viel Zunftmäßiges an; auch das Hineintragen kirchlicher Vorurteile, das Nachahmen, alter Ritterbünde, das Vorspiegeln großer Geheimnisse tadelt Krause. Der Bund unterlag den Einflüssen des Zeitgeistes und ist noch keineswegs das, was er sein könnte und sein sollte. Daher muß die Brüderschaft nunmehr durch eine völlige Wiedergeburt in die dritte schönste Lebensperiode hinübergeführt werden. Sie muß alles Zunftmäßige und bloß Nationale ablegen, muß jegliche Geheimhaltung aufgeben und Männer, Frauen, Kinder in sich vereinigen. "Europa ist jetzt die Lebensmitte der Menschheit; von Europa aus wird sich das höchste Heil über die ganze Erde verbreiten; unter allen europäischen Nationen aber ist vorzüglich die deutsche berufen, die höheren Ideen des Menschheitslebens und des Menschheitsbundes durch gesellige Kunst in die Wirklichkeit einzuführen; keine andere Nation kommt ihr gleich an allseitiger harmonischer Bildung und an gleichförmiger Empfänglichkeit für alles Menschliche und für jede Eigentümlichkeit, worin sich das Menschheitsleben bei den verschiedenen Völkern der Erde verschieden entfaltet." Wie sich Krause die Organisation dieses geistig-geselligen Menschheitsbundes im einzelnen gedacht hat, tritt nichtdeutlich hervor. Nur soviel sehen wir, daß sich der Freimaurerbund gänzlich in ihn auflösen soll. Von den freimaurerischen Symbolen will Krause die wichtigsten erhalten wissen; eine Kultgemeinde mit Altar und Verbrüderungshandlungen soll also der Bund bleiben. Auch auf die Mitwirkung der Kunst (Musik und Poesie) bei den geselligen Zusammenkünften legt er großes Gewicht. Zur Gründung dieses Bundes ruft Krause die Freimaurer auf.
Denn ihnen, meint er, muß die Segensfülle, die von einem solchen, alles staatliche, kirchliche, wissenschaftliche, künstlerische, familiäre Leben und Wirken überbauenden und verklärenden Menschenverein ausgehen würde; und die Notwendigkeit und Zeitgemäßheit seiner Gründung am besten einleuchten. Sie müssen den Stamm des neuen Bundes bilden. Sollte die Freimaurerbrüderschaft als Ganzes sich weigern, in den neuen Gesamthund einzugehen, so wird derselbe auch ohne und gegen ihren Willen geschaffen werden; ein Teil der Brüder wird sich ihm in jeden Falle anschließen. Je, doch betont Krause, daß die meisten, ja auch die geistig bedeutendsten Mitglieder von außen kommen werden, weil viele, die den freimaurerischen Grundgedanken längst in ihrer Seele tragen, der Freimaurerbrüderschaft aus guten Gründen fernbleiben. Das ist in Kürze das Reformprogramm, das Krause aus seinen freimaurerischen Forschungen und Erfahrungen einerseits und seiner hochfliegenden Humanitätsphilosophie anderseits heraus entwickelt. Und wie war die Aufnahme seiner Gedanken? Innerhalb 'des Bundes fand er zwar eifrige Leser, aber noch weit mehr Feinde.
Zur Ausführung seines Planes wurden nicht einmal die ersten Schritte getan; ja
er selber wurde, weil er Bundesrituale durch den Druck bekannt gemacht und dadurch angeblich das
Verschwiegenheitsgelübde verletzt hatte, zusammen. mit seinem Freunde und Mitarbeiter Moßdorf
aus dem Bunde ausgeschlossen (1811). Auch wird behauptet, daß er auf seinem weiteren Lebensgange
(er starb 1832 in drückenden Verhältnissen in München) durch Freimaurer verfolgt und gehemmt
worden sei. So wenig verstanden und würdigten viele Brüder die Absichten dieses edlen,
kindlich-guten und liebenswürdigen Mannes. Auch in der Öffentlichkeit fand er für seinen großen
Menschheitsbund wenig Freunde. Ernste Versuche zu dessen Verwirklichung wurden nicht gemacht.
Der Geist des neunzehnten Jahrhunderts, auf den Krause so große Hoffnungen gesetzt hatte, ging
achtlos über seinen Plan hinweg.
Das Bundesleben im neunzehnten Jahrhundert
Mit Krause erreichte die freimaurerische Philosophie vorläufig ihren Abschluß. Das Ergebnis lautet: die freimaurerische Gedanken- und bis zu einem gewissen Grad auch die freimaurerische Formenwelt ist wertvoll und unsterblich. Man muß sie, veredelt und gereinigt, in das allgemeine Lehen herübernehmen. Der Bund als solcher muß sich auflösen oder vollständig umgestalten, nachdem er seine Aufgabe als Hüter und Bewahrer des großen Menschen-Geheimnisses erfüllt hat.
Trotzdem lebte der Bund weiter in einer vom Bisherigen nicht grundsätzlich abweichenden Form. Er gewann im neunzehnten Jahrhundert sogar eine weit größere Ausdehnung, obwohl ihm einzelne Länder durch das Verbot reaktionärer Regierungen verloren gingen. Wie ist das zu erklären? Die einen meinen, der Bund habe wie andere innerlich überlebte Einrichtungen, die trotzdem nicht absterben, nur noch ein hohles Scheindasein fortgeführt, ohne sich weiter zu entwickeln. Die anderen erwidern: was bestehen bleibt, erfüllt einen notwendigen Zweck; was im Besitze wertvoller Gedanken und Formen ist, kann nicht geistig verarmen, kann wenigstens in jedem Augenblick seines Reichtums von neuem inne werden und ihn zu seinem und aller Heile anwenden. Da die Zeit nicht imstande war, für die Ideale der neuhumanistischen Denker und Dichter eine ihnen gemäße gesellschaftliche Form zu schaffen, war das Fortbestehen des geschlossenen Humanitätsbundes unentbehrlich, um diese Ideale überhaupt in einer lebendigen Gestalt, gleichsam in Fleisch und Blut, nicht bloß in Büchern und Kunstwerken, fortzuerhalten und an eine bessere Zukunft zu vererben. Daneben wirkten die anderen Gründe, die einst zur Gründung der ersten Großloge geführt hatten, auch jetzt noch unverändert fort.
Alle die Wünsche und nicht immer klaren und widerspruchslosen Hoffnungen, mit denen man bis
dahin in den Bund eingetreten war und die mit Hilfe der brüderlichen Gemeinschaft so oder so,
wirklich oder anscheinend, in Erfüllung gegangen waren, machten sich auch im neunzehnten
Jahrhundert bemerkbar und brachten dem Bunde Zuläufer in Menge.
Wir bleiben zunächst bei der deutschen Freimaurerei stehen. Da ist vor allem Goethes Verhalten
bezeichnend.
Goethe gehört beiden Jahrhunderten an. In seiner Jugend hat er die Ritterromantik und die mystisch-rosenkreuzerischen Bestrebungen nach Kräften mitgemacht. Am 23. Juni 1780 ließ er sich in die Loge Amalia in Weimar aufnehmen und wurde bald darauf auch in die höheren Grade eingeführt.
Zugleich aber lernte er Lessings Gedanken kennen und ließ Herders Zweifel, ob überhaupt noch ein abgesonderter Symbolbund für Humanität zeitgemäß sei, auf sich wirken. Ein paar Jahrzehnte lang ruhte dann die Freimaurerei in Weimar gänzlich, und als sie wieder auflebte (1807 / 08), war Goethe zuerst voller Bedenken und Geringschätzung gegen das Bundesleben. Aber dies Urteil - er hat es in einem Gutachten an den Herzog niedergelegt (Vgl. Deile, Goethe als Freimaurer, Berlin 1908; und Wernekke , Goethe und die Königliche Kunst, 1905) - änderte sich sehr schnell, und bis zum Ende seines Lebens nahm Goethe an der Entwicklung der Weimarer Loge regsten Anteil.
Zwar erlaubte ihm seine Zeit und seine wachsende Abneigung gegen größere Gesellschaften den persönlichen Besuch der Loge nur selten; aber er führte seinen Sohn der Loge zu, dichtete verschiedene Lieder für die Brüder, las und korrigierte Logenreden, die ihm die Verfasser vor den Logenfeiern vorlegten, und wurde durch seinen Freund, den Kanzler von Müller, der einer der tätigsten Freimaurer in Weimar war, über die Ereignisse und Bestrebungen der Loge beständig auf dem Laufenden gehalten, Also der ältere Goethe, der Goethe des neunzehnten Jahrhunderts, söhnte sich mit dem Fortbestehen des Freimaurerbundes völlig aus und erkannte seinen Wert mit Freuden an. Wir wollen hier nur sein Gedicht anführen, das er zum 24. Juni 1830 den Brüdern übersandte, als sie das Jubiläum seiner fünfzigjährigen Zugehörigkeit zum Bunde feierlich begingen. Nach der Festrede, die der deputierte Meister Fr. v. Müller hielt, wurde es in der Loge vorgelesen:
Fünfzig Jahre sind vorüber,
Wie gemischte Tage flohn,
Fünfzig Jahre sind hinüber
In das ernst Vergangene schon.
Doch lebendig, stets auf neue,
Tut sich edles Wirken kund,
Freundesliebe, Männertreue
Und ein ewig sicherer Bund.
Ausgesät in weiter Ferne,
Nah, getrennt, ein ernstes Reich,
Schimmern sie, bescheidner Sterne
Leis, wohltätigem Lichte gleich.
So! Die Menschheit fort zu ehren,
Lasset, freudig überein,
Als wenn wir beisammen wären,
Kräftig uns zusammen sein!
Ein so starkes Gefühl der Anhänglichkeit hatte der alte Goethe gegenüber der Brüderschaft, die, wie er
sich ausdrückt, gleich dem wohltätigen Licht der bescheidenen, überallhin ausgesäten Sterne
schimmert und die "Menschheit" (im Sinne der "Humanität") zu ehren sich vorgesetzt hat.
Ganz ähnlich war die Stellung Wielands zum Bunde, Nachdem Wieland sich lange Zeit mißtrauisch
beobachtend ferngehalten hatte, schloß er sich als fünfundsiebzigjähriger Greis (1809) der Weimarer
Loge an und beteiligte sich in den Jahren, die ihm noch geschenkt waren, redend und beratend fleißig
und gern an den Logenarbeiten. Goethe konnte in seiner berühmten Logenrede auf Wielands
Gedächtnis (1813) mit vollem Recht sagen: "wenn dieser altgegründete und nach manchem
Zeitwechsel oft wieder hergestellte Bund eines Zeugnisses bedürfte, so würde hier das vollkommenste
bereit sein, indem ein talentreicher Mann, verständig, vorsichtig, umsichtig, erfahren, wohldenkend
und mäßig bei uns (d. h. in der Loge) seinesgleichen zu finden glaubte, sich bei uns in einer
Gesellschaft fühlte, die er, der besten gewohnt, als Vollendung seiner menschlichen und geselligen
Wünsche so gern anerkannte". - Wenn man, dies liest, kann man wohl an der Daseinsberechtigung der
freimaurerischen Brüderschaft im neunzehnten Jahrhundert nicht mehr zweifeln, trotz Krause, mit
dessen Plänen sich Wieland übrigens nicht recht befreunden konnte.
Was Schiller betrifft, so ist nicht ausgeschlossen, daß er der Loge in Rudolstadt angehört hat
(Anmerkung: Nein!!!), und wir dürfen als wahrscheinlich annehmen, daß er so gut wie Herder an der
Weimarer Loge tätigen Anteil genommen haben würde, wenn er nicht vor ihrem Wiederaufleben
gestorben wäre. Von Herder wissen wir, daß er kurz vor seinem Tode für die freimaurerischen
Arbeiten S c h r ö d e r s lebhafte Aufmerksamkeit gezeigt hat.
Schröder nämlich, der große Hamburger Schauspieler, arbeitete mit großem Erfolg an der
Vereinfachung, Reinigung und Wiederherstellung des freimaurerischen Bundeswesens.
Er erklärte sich gegen die mannigfachen Hochgradsysteme und mystischen Legenden, die im Laufe des acht-- zehnten Jahrhunderts von den Freimaurern aufgenommen waren, und wollte die Freimaurerei auf ihren einfachen humanitären Kern zurückführen, jedoch unter Beibehaltung des geschlossenen Brüderschaftscharakters und der überlieferten Verfassung und Symbolik. Diese Bestrebungen fanden in der deutschen Brüderschaft großen Anklang. Neben Schröder traten eine ganze Reihe anderer Männer, die ihn unterstützten oder selbständig ähnliche Reformgedanken verfolgten. Insbesondere sind hier die Namen Feßler, Zöllner, Schneider, Ditfurth, Zinnendorf zu nennen. Sie werden noch heute im Bunde als Reformatoren verehrt. Sie alle hielten die Bundesorganisation als solche fest, ließen also die Freimaurerei als eine gesonderte Gesellschaft von Männern, die unter dem Gewande der Maurersymbole ethisch-religiös-charitative Zwecke verfolgt, bestehen. Aber sie forschten nach dem wahren Ursprung der Freimaurerei und machten den Bund von allen "unbekannten Oberen", allen unkontrollierbaren Einflüssen, allen phantastischen Überspannungen und Verfälschungen der Bundeszwecke nach Möglichkeit frei. Vor allem regelten sie auch den Zusammenhang und die Abhängigkeitsverhältnisse der einzelnen Logen neu. Wir hatten gehört, daß die Logen auf dem europäischen Festland zunächst von England aus konstituiert wurden, also von der Londoner Großloge gewissermaßen abhängig waren. Dies wurde sehr bald als lästig und unrichtig empfunden, weil die Freimaurerei in den einzelnen Ländern sich sehr verschieden entwickelte und die englische Großloge weder die Macht noch den Willen hatte, diese Entwicklung zu beeinflussen. Sie bekümmerte, sich um die ausländischen Logen nicht im geringsten. Daher war es natürlich, daß sich allenthalben unabhängige Logensysteme bildeten, die ihre Autorität auf diese oder jene Weise, meist durch die sagenhafte, auf gefälschte Dokumente gegründete Behauptung eines hohen Alters, zu sichern suchten. Zwischen, diesen Logensystemen entbrannte ein eifriger Prioritätsstreit und dieser Wettbewerb war eine Hauptursache für die Verwirrungen und Verirrungen in der festländischen Freimaurerei des achtzehnten Jahrhunderts, die wir oben geschildert haben.
Hier also griffen die genannten Männer und ihre, Mitarbeiter ein und schufen klare Großlogenorganisationen mit geordneten Gesetzen und Ritualen. In Frankreich war es schon im Jahre 1755 gelungen, eine selbständige französische Großloge zu konstituieren - sie führt heute den Namen Grand Orient de France; aber, es dauerte noch Jahrzehnte, bis sie die konkurrierenden Systeme zu vereinheitlichen und das ganze französische Logen, wesen unter ihre Verwaltung zu bringen vermochte. In Deutschland ist man niemals so weit gelangt. Die politische Zerrissenheit ließ es nicht zur Entstehung einer einzigen zusammenfassenden Großloge kommen, so ernstlich man sich darum bemühte. Vielmehr gestalteten sich nach und nach neun unabhängige Großlogen. Von diesen neun Großlogen, die bis zum Jahre 1933 bestanden, hatten drei ihren Sitz in Berlin, eine in Hamburg, eine in Dresden, eine in Leipzig, eine in Frankfurt am Main, eine in Bayreuth, eine in Darmstadt.
Diese neun Großlogen erkannten sich gegenseitig an und hatten das Recht, neue Logen züi gründen. Wenn wir hier von einem Recht sprechen, so ist damit natürlich nur gemeint, daß die Großlogen und Logen sich gegenseitig diese Befugnis zusprechen. An sich steht es jedem Menschen frei, Logen zu gründen, soviel er mag; aber diese Logen werden von den bestehenden Großlogen und darüber hinaus von dem freimaurerischen Weltbunde nicht als freimaurerisch anerkannt; es findet kein Bundesverkehr mit ihnen statt. Der innere Ausbau der Großlogen und die Durchführung der für nötig erkannten Reformen nahm also die deutschen Freimaurer und in ähnlicher Weise auch die der übrigen Länder am Ende des achtzehnten und Anfang des neunzehnten Jahrhunderts stark in Anspruch. Eine gewaltige Arbeitskraft, die auch derjenige bewundern muß, der mit Krause und Lessing das Fortbestehen des Bundes in seiner überlieferten Gestalt nicht gut heißt, wurde daran gewendet, das Verhältnis zwischen Körperschaft und Mitgliedern im Sinne der Freiheit und zugleich doch eines innigen Zusammenhaltes zu regeln, ferner die Befugnisse der Großlogen- und Logenbeamten abzugrenzen, die wünschenswerte Zahl und Art der Gradstufen festzulegen, eine begründete und zusammenhängende Bundesgeschichte zu entwerfen, kurz aus den überkommenen trümmerhaften Einzelheiten von verschiedenem Wert und Gehalt etwas Einheitliches aufzubauen, das der fortschreitenden wissenschaftlichen Bildung und dem Geschmack einer veränderten Zeit entsprach. Das wurde damals wirklich geleistet, freilich nicht ohne Kämpfe und nicht von heute auf morgen. Man darf sagen, daß der Bund bis in die Gegenwart hinein mit dieser Aufgabe beschäftigt gewesen ist und sie niemals ganz beenden wird; denn die Europäische Kultur bleibt nicht stehen, und wenn die Freimaurerbrüderschaft gebildete und einsichtige Männer in ihren Hallen sehen und auch den Besten Genüge tun will, muß sie beständig fortarbeiten und ihre Schätze immer neu revidieren. Bei dieser inneren Arbeit erfuhren und erfahren die Freimaurer durch die Öffentlichkeit teils Unterstützung, teils Hemmung. Die Gedanken der Neuhumanisten, gleichviel ob diese Geister dem Bunde freundlich oder ablehnend gegenüberstanden, wirkten befruchtend und klärend.
Wieviel Anregung gerade Lessing und Krause dem deutschen Bunde im neunzehnten Jahrhundert gegeben haben, läßt sich kaum hoch genug einschätzen. Dagegen war die Geistesbewegung der Romantik, sowie die nachfolgende materialistische Strömung und das Vorwiegen des wissenschaftlichen Spezialistentums der Freimaurerei nicht günstig. So heimisch sich der Freimaurerbund im achtzehnten Jahrhundert in der europäischen Kultur hatte fühlen dürfen, so fremd stand er jetzt inmitten der geistigen und wirtschaftlichen Parteikämpfe da. Es ist bekannt, daß man sich um die Jahrhundertwende ein ganz anderes Bild vom Verlauf der Kulturentwicklung im neunzehnten Jahrhundert gemacht hatte, als die Folgezeit zur Ausführung brachte. Die allgemeine Menschenverbrüderung, die friedliche Annäherung der verschiedenen Geistesrichtungen, die Befreiung der Völker und Einzelnen trat nicht ein.
Im Gegenteil: die geistigen, gesellschaftlichen und politischen Gegensätze verschärften sich in ungeahnter Weise und die Freiheitswünsche starben dahin oder machten sich in gewaltsamen Bewegungen Luft. Das konnte nicht ohne Einfluß auf die Freimaurerei bleiben; einerseits wurde die Stellung des Bundes zur Öffentlichkeit, anderseits auch der Charakter des Bundes selber von den veränderten Kulturströmungen berührt. Den Plan des allgemeinen öffentlichen Menschenbundes weiter zu verfolgen, verbot sich von selber; man mußte froh sein, die Freimaurerei als einen sicheren Aufbewahrungsort für die in Verruf geratenen Ideale, als eine verschwiegene Erholungs- und Sammelstätte für die enttäuschten Idealisten am Leben zu erhalten.
Zur Zeit der napoleonischen Herrschaft hatten die Patrioten in den Maurerhallen Trost und Stärkung
gesucht. Preußens Wiedergeburt und Erhebung in den Befreiungskriegen war eng mit der Freimaurerei
verknüpft gewesen; die geistigen, politischen und kriegerischen Führer der Nation gehörten fast alle
dem Bunde an. Aber gleich nach dem Kriege begann der Umschwung; der Geist, der so Großes
vollbracht hatte, sollte nun auf einmal ein böser und gefährlicher Geist sein, Schon im Jahre 1816
sprach sich Feldmarschall Blücher, ein begeisterter Freimaurer, über den reaktionären Kurs und die
Angriffe gegen den Bund folgendermaßen in der Loge in Rostock aus: "Ich kenne sie wohl, diese
Verfolgungen und weiß recht gut, daß manche uns gern vertilgen möchten; aber wir haben von ihnen
nichts zu fürchten, meine Brüder, denn sie sind viel zu schwach, um uns zu schaden, und die elenden
Versuche der Verleumdung und der Bosheit werden nicht gelingen: die feige Tyrannei wird ihre
Absicht nicht erreichen.
Wahrheit und Tugend sind die Grundpfeiler unseres Bundes, 'und unser Tempel steht fest in der Meinung aller guten Menschen und durch die Ausdauer, den Mut und die Standhaftigkeit der Brüder" (Vgl. Taute - Haarhaus: Blücher als Freimaurer, 2. Aufl. 1913). Aus diesen Worten sehen wir zwar, daß die Freimaurer mit schönem Vertrauen und tapferem Mute den Angriffen Trotz boten, aber über die Stärke der Feinde scheint sich der alte Marschall Vorwärts doch wohl getäuscht zu haben. Sie waren stark genug, in mehreren Ländern (Rußland, Osterreich, Italien) die Freimaurerei fast gänzlich zu unterdrücken und ihr auch in Deutschland die Sympathie vieler "guter Menschen" zu entziehen.
Es erschienen heftige Streitschriften gegen den Bund, die zum Teil
große Aufmerksamkeit erregten, z.B. trat der angesehene Professor Steffens im Jahre 1821 mit einer
Schrift "Karikaturen des Heiligsten" hervor, die dem Bunde Vorwürfe machte, wie sie kaum von den
erbittertsten und unbelehrbarsten Klerikalen erhoben worden waren. Ähnlich äußerte sich der Minister
Graf Haugwitz, der Schweizer v. Haller und andere. Statt sich ausbreiten und tiefer ins Volksleben
hineinwachsen zu können, sah sich der Bund in die Defensive gedrängt, mußte seine Kraft in nutzloser
Polemik verbrauchen, mußte seinen Mitgliedern möglichste Geräuschlosigkeit in der freimaurerischen
Arbeit, möglichste Zurückhaltung nach außen, möglichste Betonung der von oben her geforderten
Staats- und Kirchengrundsätze anempfehlen. Darunter litt natürlich die geistige Regsamkeit im Bunde,
Man begnügte sich wiederum mit den schlichten Moralsätzen der alten englischen Freimaurerei, man
unterstützte die Armen, hielt gut empfundene Reden über Freundschaft und Menschlichkeit, sang
ernste und heitere Gemeinschaftslieder, aß und trank mit vergnügter Harmlosigkeit.
Am 22. Mai 1840 geschah etwas überraschendes: Friedrich Wilhelm III. von Preußen ließ es zu, daß
sein zweiter Sohn Wilhelm, der nachmalige Deutsche Kaiser, in den Bund eintrat. Das war nach
außen hin ein großer Erfolg der deutschen Freimaurerei; denn damit war den Feinden des Bundes ein
wichtiges Agitationsmittel entzogen, Wie konnten die, Freimaurer staatsgefährlich und
kirchenfeindlich sein, wenn der fromme und strenge König von Preußen ihnen ein so sichtbares
Zeichen seines Vertrauens gab! Wie konnte das Freimaurergelübde, gegen das sich immer wieder die
Hauptangriffe richteten, rechtswidrig und unsittlich sein, wenn der Prinz, der sehr bald zum
Thronfolger wurde, es ohne Bedenken ablegte! Prinz Wilhelm gewann so großes Gefallen am Bunde,
daß er ihm am 5.November 1853 seinen Sohn, den nachmaligen Kaiser Friedrich, zuführte, und bei
jeder sich bietenden Gelegenheit für die freimaurerischen Grundsätze eintrat, freilich indem er diesen
Grundsätzen die ihm zusagende Deutung gab. Bruder Prinz Wilhelm sah in dem Bunde ein Institut,
das vor allem die Treue gegen den König, den Gehorsam gegen das Gesetz und die christliche
Bruderliebe pflegte und verbreitete.
Auch betonte er bei seinen Ansprachen an die Freimaurer, daß sie die überkommenen Logeneinrichtungen unverändert erhalten und sich vor Neuerungen hüten sollten. Bei dieser konservativen Auffassung versäumte er es aber nicht, die Freimaurer auch zu energischer praktischer Arbeit aufzurufen. Am 27. Januar 1845 erließ er ein Rundschreiben an die Logen der preußischen Staaten, das ihnen die Linderung der sozialen Not zur Pflicht macht. Diese wichtige Kundgebung lautet: "Wenn der Maurer in seinem Heiligtum, von der Bruderkette umschlungen, ernstlich daran arbeitet, den Verstand zu erleuchten und das Herz zu erwärmen, so muß er auch aus diesem Kreise in die Welt hinaustretend, welcher er mit allen seinen Kräften angehört, überall, wo sich Gelegenheit hierfür zeigt, durch die Tat beweisen, daß die heiligen Lehren des Bundes sich in sein Herz gesenkt und dort reiche Frucht getragen haben. Er weiß, daß er nicht den Bundesbrüdern allein die freundliche Hilfe schuldig ist, er weiß, daß alle Menschen seine Brüder sind, daß er das Wohl aller, soviel an ihm ist, in der besten Weise fördern soll.
Die Vereine, welche allerorten für das Wohl der arbeitenden Klasse sich zu bilden im Begriffe sind,
bieten hierzu eine reiche und gewiß den Brüdern willkommene Gelegenheit dar.
Wir empfehlen daher allen geliebten Brüdern der vaterländischen Logen recht dringend, diesen Vereinen
beizutreten, an der Verfolgung ihrer lobenswerten Zwecke, ohne daraus eine
Bundesangelegenheit zu machen, jedoch im Geiste der Maurerei tätigen Anteil zu nehmen, und im
Sinne des Ordens dahin zu wirken, daß die Tätigkeit der Vereine auf das nächste, gewiß hochwichtige
Ziel unverrückt gerichtet bleibe, geistige und leibliche Hilfe überall dahin zu bringen, wo man ihrer
bedarf, zugleich aber durch die Art, wie dies geschieht, und durch ihr Beispiel den Sinn der Ordnung,
der Pflicht und der Nächstenliebe zu wecken und zu verbreiten.
Möge auch hier die Welt die belebende Wärme des Bruderbundes empfinden, ohne zu wissen, woher
sie strahlt.“ (Vgl. Fitzner: Kaiser Wilhelm 1. als Freimaurer in Wort und Tat, 2. Aufl. Breslau 1876
Und: Allgemeines Handbuch der Freimaurerei, 3. Aufl. 1900/01)
Man erkennt hier unschwer die Gesinnung, die der Prinz auch als Kaiser bis in sein höchstes Alter
hinein bewahrt und zum Heile unseres Volkes bewährt hat: einen nüchternen, auf das Erreichbare
gerichteten Blick für das, was nottut, und einen freudigen, ja herzlichen Pflichteifer.
Als ihn die Regierungsgeschäfte zu sehr in Anspruch nahmen, mußte er die Logentätigkeit aufgeben.
Um so mehr vertiefte sich sein Sohn in die Freimaurerei. Die Behauptung, die man oft hört, daß er und
sein Vater nur ein repräsentatives Verhältnis zur Freimaurerei gehabt hätten, daher auch über die
wahren, angeblich gefährlichen Ziele des Bundes nicht genügend unterrichtet gewesen seien, ist
unzutreffend. Kronprinz Friedrich Wilhelm hat jahrelang das leitende Amt einer Großloge verwaltet
und sich während dieser Zeit einen klaren Einblick in alle, auch die geheimsten freimaurerischen
Dokumente und Korrespondenzen verschafft. Ihn fesselte der Ursprung und der innere Aufbau der
Freimaurerei weit mehr als seinen Vater; er war auch viel reformfreudiger. In einer seiner Reden, am
20. Januar 1883, sagte er z. B.: "Wir Maurer dürfen im Forschen und Prüfen nicht rasten. Wir dürfen
an dem Herkömmlichen, selbst wenn es uns teuer und wert geworden ist, nicht darum festhalten, weil
wir es als Überlieferung empfangen haben, weil wir uns in dasselbe wie in eine Gewohnheit nun
einmal eingelebt haben.
Auch bei uns heißt es: nicht Stillstand, sondern Fortschritt!" Das klingt ganz ähnlich wie die Mahnungen der Bundesreformatoren am Anfang des Jahrhunderts. In der Tat hat der Kronprinz die wissenschaftlichen Bestrebungen und die Reformarbeit an dem Bundeswesen energisch unterstützt und gefördert, zumal in den Kreisen, die einer geistigen Auffrischung am meisten bedurften. Auch für die gegenseitige Annäherung und das gemeinsame Wirken der einzelnen Großlogen in Deutschland tat er, was er konnte. Die Freimaurer sind noch heute überzeugt, daß er, wenn ihm eine längere Regierung als Kaiser vergönnt gewesen wäre, die Zusammenfassung der deutschen Freimaurerei, in einer einzigen Nationalgroßloge zustande gebracht haben würde.
In der Zeit der Reichsgründung war viel davon die Rede. Da sich die getrennten Stämme politisch geeinigt hatten, hoffte man, daß auch die Großlogen ihr Sonderdasein aufgeben oder wenigstens eine einheitliche Leitung erhalten würden. Hierfür wirkte unter anderen auch der berühmte Staatsrechtslehrer Bluntschli, der in jener Zeit eine führende Stellung im Bunde inne hatte.
Aber die Wünsche gingen nicht in Erfüllung. Es wurde nur ein deutscher "Großlogenbund" gegründet (am 19. Mai 1872), der zwar eine Reihe formaler Fragen regelte und gegenüber den außerdeutschen Großlogen, auch hie und da vor der deutschen Öffentlichkeit die gemeinsamen Anschauungen der deutschen Brüderschaft zum Ausdruck brachte, aber den Traum einer vollen Einigung, den so viele Freimaurer damals träumten, nicht verwirklichen konnte. Statt dessen gewann das deutsche Bundesleben durch eine andere Organisation eine Art idealer Zusammenfassung und. geistiger Einheitlichkeit, nämlich durch den "Verein deutscher Freimaurer". Das Wesen dieses "Vereins" ist einem Nichtmaurer nicht leicht klar zu machen, da er sich darunter zunächst einen Bund im Bunde vorstellen wird, der ihm überflüssig und unberechtigt erscheinen muß.
Aber wir haben gesehen, daß die Freimaurerei eine Organisation von ganz eigentümlicher Art ist, teils
eine gesellige Vereinigung, eine brüderliche Tischgenossenschaft, andernteils eine
Geistesgemeinschaft mit ethisch-religiösen Zielen. Von Anfang an hat der Bund mit der Schwierigkeit
gekämpft, diese beiden verschiedenen Seiten seines Wesens harmonisch zu vereinigen. Ein Teil der
Mitglieder hat stets nur den freundschaftlichen Verkehr und die gegenseitige Hilfeleistung in der
Freimaurerei geschätzt und gesucht, Besonders in England ist die Zahl dieser Brüder bis zum heutigen
Tage groß. Aber auch in allen anderen Ländern, nicht zum wenigsten in Deutschland finden sie sich.
Auch haben sie keineswegs unrecht, wenn sie in der Freimaurerei einen Freundschaftsklub und
Hilfsverein erblicken; sie ist es wirklich; sie ist, wie schon die ersten Schriften der Freimaurer deutlich
sagen, dem urmenschlichen Bedürfnis nach geselliger Verbindung getrennter und verschiedenartiger
Menschen entsprungen.
Die Logenmitglieder verlangen daher mit vollem Recht, daß die Loge diesem Bedürfnis Rechnung trägt, daß sie ein Ort der Erholung und des Friedens sei und bleibe, wo man vom Lärm und Streit des Tages ausruhen und im Kreise vertrauter Genossen sich erfreuen könne. Aber es gibt und gab von jeher eine Anzahl Freimaurer, denen dies nicht genügte und die in der Freimaurerei etwas viel Größeres und Höheres sahen. Auch sie haben recht; denn wie wir festgestellt haben, deuten sichere Anzeichen darauf hin, daß die Stifter des Bundes m e h r beabsichtigt haben als einen neutralen Boden für harmlose Geselligkeit zu schaffen. Die Legende, die Geheimhaltung, das symbolische Gewand, die Erziehungsstufen, das alles wäre für einen Freundschaftsklub eine unnütze Last gewesen. Daß man diese Dinge für nötig hielt, sie trotz der Angriffe und Verdächtigungen, denen sie zur Zielscheibe dienten, nicht preisgab, im Gegenteil sich ihnen mit immer größerer Neigung hingab, sie immer weiter und umfänglicher ausgestaltete und eine weitschichtige historische, philosophische und apologetische Arbeit auf sie verwendete, das beweist uns, daß die Freimaurerei außer einem Freundschaftsklub eben noch etwas anderes ist, und daß diejenigen Freimaurer, die mit hohen geistigen Ansprüchen in den Bund eintraten und Reformen einschneidender Art im Bundesleben durchzusetzen versuchten, nicht minder im Rechte waren. So war ein beständiger Gegensatz, ein stilles oder ausgesprochenes Gegeneinanderwirken innerhalb der Freimaurerbrüderschaft unausbleib-lieb.
Wir haben gesehen, wie lebhaft die Kämpfe und wie mannigfach die Entwicklungsschwierigkeiten
waren, die der Bund in seinem Schoße zu überwinden hatte. Viele der tüchtigsten und hochgesinntesten
Freimaurer verließen nach kürzerer oder längerer Mitarbeit den Bund nur deshalb, weil
sie keinen Ausweg aus diesen Schwierigkeiten, keine erlösende Formel für die organische Verbindung
der beiden verschiedenen Aufgaben und Charakterzüge der Freimaurerei fanden. Und in welcher
Richtung hatten sie diese Verbindung, diesen Ausgleich gesucht? Sie sammelten die geistig führenden,
die religiös erregten, die wissenschaftlich gebildeten, kurz die über das gesellige Logenleben
hinausstrebenden Freimaurer in engeren Zirkeln und stellten diese Zirkel entweder als höhere Grade
über die drei Maurergrade oder als besondere Orden neben den Freimaurerbund. So sind die vielen
Hochgrade und angegliederten Orden im achtzehnten Jahrhundert, wenigstens die wertvolleren und
inhaltreicheren darunter zu erklären. Es sind Reformorganismen, sind Gefäße zur Aufnahme
derjenigen Freimaurer, die den tieferen Gehalt der Freimaurerei ausschöpfen wollen. Aber der Weg
war bedenklich; er führte zu Spaltungen, Streitigkeiten, Anfeindungen und erreichte seinen Zweck nur
sehr unvollkommen. Der Fehler war hauptsächlich der, daß sich diese engeren Zirkel gegeneinander
und gegen die allgemeine Brüderschaft streng abschlossen, also sich des einzigen Mittels gegen
Verirrungen und gegen hochmütigen Dilettantismus beraubten: der Kontrolle und Einwirkung der
Gesamtheit. Daher entstand eine tiefe Abneigung gegen derartige Geheimzirkel und Engbünde im
Bunde, die am Ende des achtzehnten Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreichte und bis zum heutigen
Tage in einem großen Teil der Freimaurerbrüderschaft fortdauert.
Welchen anderen Weg aber konnte man einschlagen? Wenn wir uns an die freimaurerischen
Philosophen der Jahrhundertwende erinnern, so sehen wir, daß man damals vergebens nach einem
gangbaren Wege Umschau hielt: die Verbindung zwischen den geistig regsamen Brüdern lockerte sich
oder hörte ganz auf. Jeder blieb allein; manche gaben sogar die Bundesfreimaurerei ganz auf, weil sie
nur an einer ethisch-religiösen Menschengesellschaft, nicht an dem Freundschaftsklub Anteil haben
wollten. Lessing und Krause meinten, der bestehende Freimaurerbund müsse sich auflösen.
Viele andere einsichtige Männer bis in die Gegenwart hinein haben dasselbe gemeint und haben sich, da der Bund sich keineswegs auflöste, vom Bunde zurückgezogen, um als geistige Einsiedler dem freimaurerischen Gedanken ungestört nachzuhängen. Die Folge davon war, daß das Bundesleben wertvoller geistiger Kräfte beraubt wurde, daß es aber auch mit dem freimaurerischen Gedanken nicht recht vorwärts gehen wollte. Denn was ist ein Gedanke ohne Form! Was ist ein geistig-menschliches Prinzip ohne einen Körper, ohne Auswirkung in einer lebendigen Gemeinschaft Gleichgesinnter! Vielfach hat man den Ausweg gewählt, nicht-freimaurerischen Vereinen mit ähnlichen geistigen Zielen beizutreten. Die Freimaurer des neunzehnten Jahrhunderts finden wir in allen Korporationen, die sich auch nur entfernt mit der Freimaurerei berühren, zahlreich vertreten; so gleich im Anfang des Jahrhunderts in dem Tugendbund und anderen politischen, Reformvereinen, später in dem Guttemplerorden und ähnlichen Vereinen zur sozialen und sittlichen Hebung des Volkes, dann auch in den wissenschaftlichen, philosophischen, religiöse reformerischen Gesellschaften der verschiedensten Art. Auch am kirchlichen Leben, zumal dort, wo es den Laien Betätigungsfreiheit gibt, haben sie sich eifrig beteiligt und tun es noch heute. Aber alle diese Gemeinschaften, so nützlich und wertvoll sie sind, konnten doch den Freimaurern keinen vollen Ersatz für das bieten, was sie von der Freimaurerei zu erwarten sich berechtigt glaubten.
Alle diese Gemeinschaften dienten nicht dem frei, maurerischen Gedanken, wenigstens nicht als ihrer Hauptaufgabe und nicht in der entschiedenen Form, wie die Freimaurer es wünschen mußten. Sie haben Einzelaufgaben, haben Fachaufgaben, können, daher nicht ihre Kraft ungehindert der großen freimaurerischen Allgemeinaufgabe der Menschenverbrüderung und Menschenaufbauung widmen. Auch die Kirche hat ein anderes Erziehungsziel, als die Freimaurerei: sie will Christen erziehen, diese Menschen. Auf der anderen Seite fehlt jenen Vereinen naturgemäß auch die Teilnahme für. das freimaurerische Bundeswesen, seine Geschichte, seine Formen, seine Aussichten für die Zukunft, kurz für alles das, was die Freimaurerei beschäftigte und was sie gerne im Kreise Gleichgesinnter besprochen und erörtert hätten. Das war die Sachlage, die zur Gründung des Vereins deutscher Freimaurer führte. Dieser Verein - er trat am 19. Mai 1861 zu Potsdam ins Leben - stellte sich die Aufgabe, die geistig regsameren Freimaurer sämtlicher deutscher Großlogen zu sammeln und sie um den freimaurerischen Gedanken als solchen zu scharen, d. h. dasjenige, was von der Freimaurerei übrig bleibt, wenn man von dem Logenleben absieht, zu pflegen. Der Verein vermied jede Einmischung in die Leitung der freimaurerischen Körperschaften, er trachtete nicht darnach, eine Art Aufsichtsbehörde für die Logen und Großlogen zu sein wie die Hochgradsysteme und geheimen Orden des achtzehnten Jahrhunderts: er ließ das Logenwesen unangetastet und erkannte seine Berechtigung und seinen Wert rückhaltlos an.
Er wollte nur dem freimaurerischen Gedanken, nur jenem eigentümlichen Evangelium nachgehen, das
im Gewande unscheinbarer Symbole und Legenden von den alten englischen Freimaurern ans Licht
gebracht, dann von den französischen Reformern in leuchtende Farben getaucht und mit täuschendem
Beiwerk umgeben, endlich von den deutschen Denkern und Dichtern in voller Klarheit und
Bestimmtheit verkündet worden war. Natürlich erhoffte er von dieser seiner Arbeit eine günstige
Rückwirkung auf das Logenleben, eine Klärung mannigfacher historischer und organisatorischer
Fragen, eine Vertiefung und Vergeistigung des brüderlichen Verkehrs. Ebenso aber hoffte er auch auf
das öffentliche Geistesleben einzuwirken; er wünschte die freimaurerischen Ideale den
entgegengesetzten Zeitströmungen gegenüber zur Geltung zu bringen, also. für den
"Humanitätsglauben", den Glauben an den Heilswert der "Arbeit" zu werben und dem deutschen
Geiste alles das ins Gedächtnis zurückzurufen, was er am Anfange des Jahrhunderts sich
zugeschworen, aber in dessen Verlauf vergessen hatte.
Der Verein deutscher Freimaurer hatte anfangs nur einen kleinen Mitgliederkreis.
Vor der Hitlerzeit umfaßte er mehr als den vierten Teil der deutschen Brüderschaft. Auch die meisten Großmeister und Logenbeamte gehörten ihm an: es hatte sich also die Erkenntnis durchgesetzt, daß der Bund als Logenorganisation mit dem Bunde, als geistiger Gesellschaft friedlich auskommen und zu gegenseitigem Nutzen Hand in Hand gehen muß. Wenn wir nun einen kurzen Blick auf die frei, maurerische Entwicklung in den übrigen Ländein .Während des neunzehnten Jahrhunderts werfen, so fällt uns vor allem der Unterschied zwischen der deutschen und der französischen, überhaupt der romanischen Freimaurerei ins Auge. Am Ende des achtzehnten Jahrhunderts hatte der Bund in den romanischen Ländern dieselbe Krise durchzumachen wie in Deutschland; der geistige Gehalt, den man in der Freimaurerei fand oder zu finden glaubte, schien mit dem geselligen Logenleben nicht zu harmonieren; man meinte sich für eins von beiden entscheiden zu müssen. Viele von den geistig hochstehenden, religiös-mystischen oder wissenschaftlich-aufklärerisch gerichteten Naturen, die sich im achtzehnten Jahrhundert in der Freimaurerei getummelt hatten, kehrten jetzt dem Bunde den Rücken und erklärten die Freimaurerei für veraltet. Aber der Bund lebte, wie in Deutschland, trotz dieser Todesurteile ungehindert weiter, weil seine Organisation für das menschliche Geselligkeitsbedürfnis einen so vortrefflichen Rahmen abgibt. Nun aber bemächtigen sich dieser Organisation ganz andere Elemente. Die Politiker, die gegen das unselige reaktionäre Regiment, das damals allenthalben herrschte, konspirierten, drängten sich in den Freimaurerhund hinein. Die romanischen Logen wurden Zufluchtstätten der Revolutionäre, und als die Verhältnisse sich änderten und die Verfassungen demokratischer wurden, hatten sich diese. Logen schon so sehr an die politische Betätigung gewöhnt, daß sie sie auch dann noch fortsetzten und sich stellenweise sogar in das gehässige und kleinliche Parteigetriebe hineinbegaben. Damit hatte man freilich die Langeweile aus den Logen verscheucht und dem geselligen Klubleben einen geistigen Inhalt gegeben.
Aber welcher Art war dieser Inhalt! Streitigkeiten über Politik und Religion sollen nicht über die Schwelle der Loge gebracht werden, so hieß es in den englischen Urkunden. Innerhalb der Logenmauern sind die Freimaurer nicht Parteigänger, nicht Vertreter irgendwelcher Interessengruppen, irgendwelcher Klassen oder Stände, sondern sie sind nur Menschen, sind nur Maurer, d. h. Bauende und brüderlich an einem unsichtbaren Tempel Arbeitende. Das vergaß man. Zwar war die Versuchung zu dieser Politisierung in den romanischen Ländern nicht gering, denn die Logen wurden von den kirchlichen Gewalten arg bedrängt und hatten sich beständiger Angriffe gegen ihr Dasein zu erwehren. Sie mußten kämpfen. Aber dieser Kampf entfremdete sie den freimaurerischen Idealen, dieser Kampf zog sie herab und machte sie zu Parteiorganisationen, zu willigen Werkzeugen politischer Führer und politischer Programme. Jedoch haben sich immer wieder Männer gefunden, die das alte und echte Ziel in Erinnerung brachten, und vielen Brüdern war und ist die Loge dasselbe, was sie den Freimaurern aller anderen Länder ist. Ein Verein nach Art des deutschen Freimaurervereins kam in diesen Ländern nirgends zustande. Die Richtung, die man eingeschlagen hatte, machte einen Zusammenschluß geistig führender Brüder zur Förderung des eigenartigen freimaurerischen Gedankensystems schwer. Wem das gesellige Logenleben nicht genügte, der trug Politik oder andere, an sich vielleicht sehr schätzenswerte Dinge in die Logen herein. Einzelne trieben natürlich auch freimaurerische Geschichte und vertieften sich in die Symbolik und Ritualistik, aber sie taten es auf eigene Hand, sie fanden nicht den Rückhalt in der Brüderschaft, wie die deutschen Forscher an dem Verein.
Zum Abschluß unserer Einführung in das Wesen und Wollen der Freimaurer sei hier eine Stelle aus
einem jener Fragestücke oder Prüfungsgespräche mitgeteilt, die einen so wesentlichen Bestandteil des
Bundes-Brauchtums bilden. Die beiden höchst einfachen Fragen und Antworten, die wir hier anführen,
sind dem sogenannten "Freimaurerverhör" entnommen, das aus dem 18. Jahrhundert stammt, vielleicht
auch älter ist und in seiner Verbindung handwerklicher, wissenschaftlicher, mystischer Sätze mit
ethischen Geboten einen Einblick in jene Epoche gewährt. Jedoch erheben sich die beiden Fragen, die
am Ende dieses Gespräches stehen, zu rein menschlicher Wahrheit und bleiben gültig für alle
vergangenen und künftigen Freimaurergeschlechter.
Sie lauten:
"Sind die Maurer bessere Menschen als andere?"
"Es gibt Maurer, die schlechter sind als die Nichtmaurer. Meist aber sind sie besser, als sie
sein würden, wenn sie keine Maurer wären."
"Lieben die Maurer einander so stark, wie man behauptet?"
"Gewiß! Das kann nicht anders sein. Denn gute und rechtschaffene Männer, die einander
als solche kennen, lieben sich um so mehr, je besser sie sind!"
Die Angriffe
Wer unseren Ausführungen bis hierher gefolgt en Wunsch haben, ein zusammenfassendes Wort über die Angriffe und Verfolgungen zu hören, denen der Freimaurerbund von seiner Geburtsstunde an bis in die jüngste Gegenwart hinein ausgesetzt gewesen ist. Wie ist es möglich, daß eine Gemeinschaft, für die sich gleich anfangs die Mächtigen der Erde und für deren Grundgedanken sich so viele Große im Reiche des Geistes eingesetzt haben, so erbitterte Feindschaft erregen konnte? Wir sind in unserer Darstellung immer wieder auf diese Feindschaft gestoßen und haben von der Behinderung, Störung oder gänzlichen Ausrottung des Logenlebens in einzelnen Ländern zu erzählen gehabt. Soeben erst haben die Freimaurer in Deutschland, in Österreich, Italien, Spanien und einigen Balkanländern eine Epoche der Unterdrückung und Verfolgung erlebt.
Mühsam beginnen sie sich wieder zu sammeln und voller Eifer bemühen sich insbesondere die deutschen Freimaurer, in rückschauenden Bestrahlungen Klarheit über das, was sie erlebt haben, zu gewinnen und ihre eignen Erfahrungen mit denen sehen Vorfahren zu vergleichen. Die neue Welle der antifreimaurerischen Bewegung begann mit dem ersten Weltkrieg, Da hieß es, die Ermordung des österreichischen Thronfolgers in Serajewo sei durch die serbische Freimaurerei, die wiederum mit französischen oder englischen Freimaurerkreisen in Beziehung gestanden habe, veranlaßt und finanziert worden. Es fand sich sogar ein deutscher Universitätsprofessor, der Staatsrechtler Kohler, der diesen Unsinn glaubte und vertrat.
Dann kam Wichtl und verkündete, daß die Freimaurer eine Weitrepublik vermittelst einer allgemeinen Weitrevolution ins Werk zu setzen beschäftigt seien. Da war es nur noch ein kleiner Schritt bis zum General Ludendorff, der das Bestehen einer festen Allianz zwischen Freimaurern, Juden, Jesuiten konstatierte, mit einem finsteren Ziele, das er allerdings nicht in der Lage war, näher zu erläutern. Statt dessen veröffentlichte er eine Menge von Logenritualen und glaubte dadurch einen glänzenden strategischen Vernichtungsschlag gegen das ganze Freimaurergezücht zu führen.
Seine Absicht wurde durch einen Rechtsanwalt Schneider unterstützt, der im Lande herumreiste und durch karikierte Vorführung der Aufnahmebräuche das Freimaurerwesen lächerlich und verächtlich zu machen suchte, Demselben Ziele dienten die sogenannten Freimaurermuseen, die von nationalsozialistischen Laien in mehreren deutschen Städten eingerichtet wurden und freimaurerische Geräte und Dokumente in bunter Zusammenstellung zeigten. Bei Führungen durch diese Museen wurden die Besucher auf das angeblich Unwürdige und Gefährliche dieser Gegenstände hingewiesen. Der Nationalsozialismus nämlich hatte von Anfang an unter dem Einflusse Rosenbergs den Freimaurern den Krieg erklärt.
Nachdem Hitler die Freimaurer als Organe des "Weltjudentums" erkannt hatte, wurde in zahllosen Schriften, Vorträgen, Schulungskursen das Urteil über eine Sache gesprochen, die den meisten Beurteilern gänzlich unbekannt war oder ihnen mindestens unverständlich geblieben war.
Als Hitler mit seinen Leuten zur Macht kam, wurde ein Teil der Logen sofort enteignet, andere durch immer stärker werdenden Druck zur Liquidierung gezwungen. Einige von den leitenden Personen sahen wohl das Törichte der ganzen Aktion gegen die Logen ein, suchten auch zu bremsen, wie sie wenigstens versicherten, hatten aber keinen Erfolg. Namentlich seitdem die Geheime Staatspolizei mit ihrem Sicherheitshauptamt die Beseitigung der Freimaurerei zu einer ihrer Hauptaufgaben erkoren hatte, nahmen die Beobachtungen, Bedrohungen und Bedrückungen, Schädigungen und Zurücksetzungen einzelner Logenangehöriger kein Ende. Es wurde eine Kartothek sämtlicher deutschen Logenmitglieder angelegt mit Hilfe der eingeforderten Mitgliederlisten, um auf Grund einer spitzfindigen Klassifizierung diese ehrlichen deutschen Männer unehrlich zu machen, in ihrem Fortkommen zu hindern, unter Umständen auch sie einzukerkern und nur mit Widerstreben wieder freizugeben.
Die Archive und Bibliotheken wurden "sichergestellt", wie man es beschönigend nannte, sind aber fast durchweg verschleppt und zerstört, eingestampft oder verbrannt worden, wodurch sehr wertvolles kulturhistorisches Material verloren gegangen ist. Denn zwei Jahrhunderte deutscher Geistesgeschichte und zahlreiche Erinnerungen an große und maßgebende Persönlichkeiten waren in diesen Archiven und Bibliotheken gesammelt und aufbewahrt worden. Der Zweck, den man verfolgte, das Logenleben zu beseitigen, wurde also durch diese Maßnahmen vollauf erreicht. Auch im Geheimen haben die zersprengten Bruderkreise ihre Versammlungen nirgends fortgesetzt.
Nur in öffentlichen Lokalen traf man sich und sprach ein freundschaftliches Wort miteinander, womit denn freilich der tiefere Zweck dieser neuesten Freimaurerverfolgung schließlich doch vereitelt wurde, nämlich die freimaurerische Gesinnung überhaupt aus der Welt zu schaffen. Gesinnungen lassen sich mit Gewaltmaßnahmen nicht beseitigen, zumal wenn sie durch jahrelange oder gar jahrzehntelange Gewöhnung zu unserem seelischen Eigentum geworden sind. Nun richtete sich aber die Gegnerschaft der Nationalsozialisten gerade auf die in den Logen heimische Gesinnung.
Es sollte überhaupt keine Sonderbünde, keine Verbindungen und Verbrüderungen innerhalb der Gesamtmasse des 'Volkes mehr geben. Ein Volk, ein Führer! - hieß es, Und diesem Prinzip mußten sehr viele Vereine weichen, darunter auch solche, die an sich für harmlos galten.
Man bedachte nicht, daß ein natürlicher Organismus nicht aus einer gleichartigen Zusammenfassung von unzähligen Individualwesen besteht, sondern daß Gruppen von Individuen sich an andere Gruppen anschließen, und so ein vielgliedriges Gebilde entsteht, das lebt und wächst vermöge dieser Gruppengestaltungen, dieser ineinandergefügten Ringe. Diese natürliche Entwicklung sollte abgeknickt und umgebogen werden, weil man den "totalen Staat" wollte und hinter allen Sonderbünden, hinter allen freiwilligen Gruppen Verrat an dem Ganzen oder mindestens eine mangelhafte Hingabe an das Ganze argwöhnte. Daher warf man den deutschen Freimaurern vor, daß sie nicht vaterländisch genug seien. Aber sie haben ebenso für ihr Vaterland gearbeitet, gekämpft und gelitten, wie alle ausländischen Freimaurersysteme in den anderen Völkern der Welt, welche mit Unrecht als "international" und "vaterlandslos" gebrandmarkt wurden.
Die Freimaurer können nur nicht zugeben, daß der Staat alles und jede freie Sonderentwicklung ein Verbrechen sei. Wie schon Lessing erkannte und vor ihm die englischen Freimaurer mit richtigem Instinkte festlegten, wird ein freigesinnter, seiner Grenzen bewußter Staat die Freimaurerei stets dulden und sogar begünstigen, während der engherzige Polizeistaat sie mißtrauisch verfolgen und, wenn möglich, verbieten wird.
Der Staat muß sich damit begnügen, eine Schutzanstalt zu sein. Es ist eine gefährliche Überspannung des Staatszweckes, wenn er auch die Seelen seiner Bürger regieren und dirigieren, also nicht nur die gesamte Erziehung der Jugend, sondern auch das kulturelle Leben der Erwachsenen in seiner Hand halten will. Wenn ihm alles Unkontrollierte und Unkontrollierbare gefährlich erscheint, ist er auf einer falschen Bahn begriffen; denn wahre Bildung und wahre Freude und Erhebung gibt es nur dort, wo keine Kontrolle, sondern Freiheit und Stille ist. Es war höchst interessant, in der nationalsozialistischen Literatur und auch in den Maßnahmen der Regierung immer wieder auf halbe Eingeständnisse ihres Irrtums zu stoßen.
Auf Einzelheiten können wir nicht eingehen. Wir weisen aber auf die ausführliche Würdigung der freien Bruderschaftsbewegung im europäischen Mittelalter hin, die sich in Rosenbergs "Mythos des 20.Jahrhunderts" findet. Daß diese alten Bruderschaften, diese Orden, Zünfte, Gesellschaften und mannigfache religiöse Gemeinschaften innerlich, wenn auch nicht immer historisch mit der Freimaurerei zusammenhängen, hat insbesondere Ludwig Keller nachgewiesen.
Wer dem freichristlichen Bundeswesen derart den Vorzug vor der Kirche gibt, wie es von nationalsozialistischer Seite geschehen ist, der widerspricht sich selber. Auch haben sie von einem "Deutschen Orden" geredet und „Ordensburgen" gegründet. Aber sie haben bei diesen und anderen Anleihen nicht bedacht, daß Ordensmitglieder Brüder sein müssen und daß eine Gesellschaft von Erwählten und Vorbildlichen nur dann Bestand hat, wenn ihre Mitglieder ein unbedingtes Vertrauen zu einander haben. Der Freimaurerhund ruht auf der Bruderliebe; jene höheren Ordenssysteme im 18. Jahrhundert, von denen ich erzählt habe, sind hauptsächlich daran zugrunde gegangen, daß diese gegenseitige offene und herzliche Harmonie vielfach fehlte.
Woher hätte nun erst bei unseren Nationalsozialisten das gegenseitige Vertrauen kommen sollen, da sie voller Haß und Mißtrauen gegen einander waren und in einer Atmosphäre der Verleumdung und des Anstiftens oder Befürchtens von Verrat und Mord lebten! Der älteste und konsequenteste Gegner der Freimaurerei ist jedoch nicht der Staat gewesen, vielmehr haben sich von Anfang an immer Staatshäupter und Politiker gefunden, welche dem Bunde Vorschub leisteten. Die europäische Entwicklung in den letzten beiden Jahrhunderten zielt eben trotz aller Rückschläge und Gegenbewegungen auf einen Zustand hin, mit dem das Freimaurerwesen nicht nur vereinbar ist, sondern dem es sogar als Stütze zu dienen vermag. Die Angriffe gingen daher meist von gewaltsamen Reaktionären oder Revolutionären aus.
Dagegen hat sich die Kirche, insofern sie ein totalitäres System ist, zu allen Zeiten der Freimaurerei feindlich erwiesen. Wie wir erzählten, hat die katholische Kirche sehr bald nach Begründung der englischen Großloge eine französische Schutzvorschrift für die Freimaurer (1738) durch Henkershand verbrennen lassen und gleichzeitig durch eine Bannbulle dem Bunde feierlich und amtlich den Krieg erklärt. Diesen Krieg hat sie, wie wir ebenfalls erwähnt haben, durch eine Reihe von weiteren Bullen in beständig verschärfter Form fortgesetzt. Sie hat in der, unter dem Siegel der Verschwiegenheit vollzogenen Verbrüderung eine Verschwörung feststellen zu müssen geglaubt, und zwar eine Verschwörung gegen die kirchliche Autorität.
Die Freimaurer, so lesen wir in den zahllosen katholischen Schriften, Lehrstücken und Artikeln gegen den Bund, haben ein Komplott geschmiedet, um die Kirche zu vernichten, die Altäre umzustürzen und überhaupt alle Autorität, alle Ordnung, alle guten Sitten aus der Welt zu schaffen. Sie sind daher die Feinde des Menschengeschlechts, sie sind die Diener des Satans. Dieser letztere Vorwurf, daß die Freimaurer im Bunde mit dem Satan stünden, ist nicht etwa nur bildlich gemeint.
Der Teufel ist den streng Kirchengläubigen eine höchst reale Person und die Bündnisse mit dem Teufel sind ihnen furchtbare und unabweisbare Tatsachen. Kaum ein halbes Jahrhundert ist vergangen, seitdem Leo Taxil der hohen Geistlichkeit auf einem zu diesem Zweck einberufenen Konzil haarsträubende Einzelheiten über diesen freimaurerischen Verkehr mit dem Fürsten der Hölle aufgetischt hat. Er machte sich ein Vergnügen daraus, die Leichtgläubigkeit zu verspotten; aber man sollte den Ernst und die Folgerichtigkeit in solchem Teufelsglauben nicht verkennen, sollte auch an das ehrwürdige Alter der Zauberbeschwörungen und geheimen Bündnisse mit überirdischen Mächten denken, die im Volksglauben, aber auch in den offiziellen Religionen irgendwie ihren Niederschlag gefunden haben. Es fragt sich bei allen solchen Versuchen des Menschen, mit dem Unsichtbaren und doch so Gewaltigen, das wir in und hinter dem Weltlauf verspüren, einen Bund zu schließen, ob es sich dabei um gute oder um böse Mächte handelt, und ob wir sie frevelhaft zu uns zwingen oder uns demütig ihnen hingeben wollen, Zweifellos sind in den liturgischen Handlungen der Freimaurer, die sie in ihren geschlossenen Zusammenkünften vornehmen, Reste alter, vorchristlicher Kulte zu erkennen, aber da die Bibel auf ihrem Altare liegt und Gebete ihre Feiern eröffnen und schließen, kann man getrost annehmen, daß sie Gott und nicht den Teufel in ihren Kreis rufen.
Wenn ein totalitäres System eine unerwünschte Bewegung weder zu unterdrücken noch zu unterjochen vermag, dringt sie auf möglichste Abschließung. So hat sich die Kirche, seitdem sie andere Erziehungs- und Erbauungsmächte neben sich dulden muß, bemüht, jede Berührung mit Andersgläubigen zu vermeiden.
Dieses Bestreben wird durch den Freimaurerbund durchkreuzt, denn es liegt ja in seinem Wesen, Menschen jeden Glaubens, also auch fromme und treue Anhänger der Kirche innig zu verbinden. Diese Tendenz der Ignorierung konfessioneller Unterschiede und nicht nur Ignorierung sondern Überbrückung mußte den äußersten Unwillen einer Macht erregen, die außerhalb ihrer Mauern kein Heil, nur Heillosigkeit und ewige Verderbnis sah. Sie mußte schelten, warnen, auch strafen, wenn sie konnte und die infizierten Glieder abtrennen und ausschließen.
Das Ideal, das die Freimaurer auf ihre Fahne geschrieben hatten: die Menschen zu vereinigen, nicht sie zu trennen, über alle Unterschiede und Gegensätze hinweg das Gemeinsame zu suchen und in den Vordergrund zu rücken, dieses Ideal kam wirklich wie aus einer anderen Welt; es leitete eine neue Epoche in der europäischen Geistesentwicklung ein; es ging weit über den Befreiungskampf der Reformation hinaus. Ein Paktieren mit dieser Friedens- und Befreundungsbewegung mußte der konsequenten katholischen Kirche ebenso unmöglich sein wie dem konsequenten Faschismus und Nationalsozialismus.
Ich kann mir nicht versagen, an dieser Stelle eine kurze Ansprache eines der treuesten und
anhänglichsten Mitglieder der deutschen Freimaurerbrüderschaft wörtlich anzuführen. Diese Worte hat
Blücher im September 1813, also mitten in dem Befreiungskampf gegen Napoleon gesprochen, als die
Heere der Verbündeten zu der Entscheidungsschlacht gegen Leipzig vorrückten. Blücher kehrte mit
den Offizieren seines Stabes, soweit sie Freimaurer waren, in der Loge in Bautzen ein, um einer
freimaurerischen Arbeit beizuwohnen. Sachsen stand noch auf Seiten Napoleons, die.
Loge in Bautzen war also eine "feindliche" Loge. Während der Feier erbat Blücher das Wort und sprach folgende Sätze, die ein helles Licht auf die Gesinnung eines alten Kriegsmannes und glühenden Vaterlandsfreundes werfen, der sich von den freimaurerischen Lehren hat durchdringen lassen: "Ich habe von Jugend auf die Waffen für mein Vaterland geführt und bin darin grau geworden.
Ich habe den Tod in seinen fürchterlichsten Gestalten gesehen und sehe ihn noch täglich vor Augen. Ich habe Hütten rauchen und ihre Bewohner nackt und bloß davongehen sehen, und ich konnte nicht helfen. So bringt es das Treiben und Toben der Menschen in ihrem leidenschaftlichen Zustande mit sich. Aber gern sehnt sich der bessere Mensch aus diesem wilden Gedränge heraus, und segnend preise ich die Stunde, wo ich mich im Geiste mit guten treuen Brüdern in jene höheren Regionen versetzen kann, wo ein reineres, helleres Licht uns entgegenstrahlt. Heilig ist mir daher die Maurerei, der ich bis zum Tode treulich anhängen werde, und jeder "Bruder wird meinem Herzen stets teuer und wert sein." (Nach einer Pause, die Hand aufs Herz legend und mit niedergebeugtem Haupte): "Gott sei mir gnädig!" (Vgl. Tautt - Haarhaus: Blücher als Freimaurer. Weitere Zeugnisse aus dem Munde namhafter Männer findet man in dem "Freimaurerischen Lesebuch" von Aug. Horneffer.)
Es kann gar keine bessere Verteidigung gegen die Anklagen mangelnder Vaterlandsliebe, aber auch kirchenfeindlicher Gesinnung, die man den Freimaurern nachsagt, geben, als dieses schlichte Bekenntnis eines Mannes, der ebenso fromm wie tapfer war und der dem Staat nicht weniger als seinem Gotte alles gegeben hat, was er zu geben vermochte, der aber zugleich das "reinere hellere Licht" einer Vereinigung suchte und dankbar verehrte, die das Trennende wiederum zusammen" ziehen und das Feindliche befreunden wollte, Die Humanität spricht hier durch den Mund eines Mannes, der ohne die Freimaurerei gewiß niemals etwas von Humanität gewußt oder verspürt haben würde. Es hat natürlich auch unter den Anhängern totalitärer Systeme immer Menschen genug gegeben, die unbewußt diese Humanitätsgesinnung in sich getragen haben. Ihre Feindschaft gegen die Freimaurerei beruhte auf Unkenntnis.
Ihr Fanatismus hatte nicht ganz das Gefühl für die Zusammengehörigkeit alles dessen, was Menschenantlitz trägt, in ihrem Inneren ertöten können. Sobald aber in einem Menschen das Bewußtsein aufleuchtet, daß hinter den Bergen auch noch Leute wohnen, und daß die Angehörigen anderer Völker, Rassen, Religionen und Hautfarben auch Menschen sind und in den wesentlichsten Punkten uns gleichen, ist das Tor zu dem freimaurerischen Evangelium geöffnet und jenen Exzessen des Fanatismus, die wir in Vergangenheit und Gegenwart mit Grauen haben ihr Haupt erheben sehen, der Boden entzogen.
Zu den katholischen Gegnern der Freimaurerei haben sich mehrfach auch protestantische Kämpfer gesellt. Ihre Argumente waren ähnlich. Da die Freimaurer nicht nur dogmatische Kirchenanhänger in ihre Reihen aufnehmen, da sie es sogar ausdrücklich ablehnen, nach dem Glauben ihrer Mitglieder zu fragen, wirft man ihnen Kirchenfeindschaft vor, warnt vor dem Eintritt, hat auch mehrfach den Pfarrern die Zugehörigkeit zum Bunde verbieten wollen. Aber es sind immer wieder au, der Kirche selber Verteidiger erstanden, welche daran erinnerten, daß alle protestantischen Gemeinden doch eben "protestantische` seien, also aus einem Protest gegen den Anspruch der katholischen Kirche hervorgegangen sind, der allgemeine und allein berechtigte: Weg zum Heile zu sein.
Alle Reformatoren waren in diesem einen Punkte einig, daß es verschiedene Wege zu Gott gibt und daß uns keine überlieferte Heilsanstalt mit ihren Priestern von der Aufgabe entbinden kann, den für jeden einzelnen richtigen Weg selber zu suchen. Diese Aufgabe des Suchens, Wählens und Findens aber wird auf das Beste unterstützt durch eine Vereinigung ehrlicher Sucher, die einander gegenseitige Hilfe bei dieser höchsten und schwersten Menschenkunst leisten wollen: bei Gott und Men, sehen angenehm zu werden und einen Bund zu schließen, der nicht nur die Menschen untereinander, sondern auch den Menschen mit Gott verbindet. Infolgedessen haben sich schon im 18.Jahrhundert, gleich bei Gründung der ersten Londoner Großloge, und dann weiterhin ebenso im 19. und 20. Jahrhundert zahlreiche evangelische Geistliche der Loge angeschlossen.
Wir finden sie oft in den leitenden Stellungen als Großmeister, Logenmeister und Redner. übrigens hat es auch katholische Geistliche gegeben, die sich dem Freimaurerbunde anschlossen. Das war insbesondere in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts der Fall, als der Jesuitenorden vorn Papst aufgehoben wurde und in den Kreisen des höheren und niederen Klerus mehrerer europäischer Länder das Bestreben sich bemerkbar machte, die allgemeine Richtung jener Zeit auf Ausgleich der Weltanschauungsgegensätze mitzumachen. Männer wie der Erzbischof Karl Th. von Dalberg, der mit Herder, Goethe, Wieland und Schiller befreundet war, hat ein schönes freimaurerisches Lied verfaßt ("Maurers Beruf und Pflicht") und sich an der Gründung einer Loge in Erfurt lebhaft beteiligt. Andere Logen gab es damals, welche fast ausschließlich aus Klerikern. bestanden.
Welch ein anderes Bild, wenn wir nach dem sonst so freien Amerika in der ersten Hälfte des 19.
Jahrhunderts hinüberschauen und einen Verein, der sich geradezu Antimasons nannte, in einem
umfassenden Kampf gegen die Logen begriffen sehen. Die eifrigsten waren puritanische Geistliche:
sie riefen zur Entscheidung "zwischen dem Reiche Gottes und der Finsternis" auf und fanden um so
weitere Zustimmung, als ein bis heute noch immer nicht ganz, aufgeklärtes Ereignis: das
Verschwinden eines Freimaurers namens Morgan, der die frei, maurerischen Bräuche in einem Buche
veröffentlichen wollte, die Gemüter mächtig aufregte. Wenn hier wirklich ein Verbrechen begangen
worden ist, so ist natürlich die Entrüstung vollauf berechtigt; aber diesen einzigen, nicht einmal
zweifelsfreien Fall gegen den Bund im ganzen ins Feld zu führen, dürfte wohl kaum berechtigt sein.
(Über die rapide, nach diesem Rückschlag um so breitere Entwicklung der Freimaurerei in Amerika
vergleiche man: Eugen Lennhof: Die Freimaurerei (Wien, 1929)) Wie müßte man dann erst mit
anderen großen Organisationen z. B. mit der Kirche ins Gericht gehen, deren zahlreiche Verbrechen
gegen Gott und Menschen am Tage liegen! Es ist nun einmal nicht anders: die edelsten Dinge sind am
meisten mißbraucht worden, und wenn eine Gemeinschaft das Allerbeste und Allerreinste will, ist sie
am meisten der Gefahr ausgesetzt, der menschlichen Schwachheit einen überreichlichen Tribut zahlen
zu müssen.
Außer den kirchlichen und den nationalistischen Hauptgegnern der Freimaurerei gibt es noch
zahlreiche andere Gegner, denen der Bund aus diesem oder jenem Grunde nicht zusagt. Da gibt es z.
B. immer noch Leute, die den Freimaurern zutrauen, daß sie Zauberei treiben, geheimen Schaden
stiften, Gold machen könnten u. dgl. Andere werfen ihnen, wie erwähnt, das Haften an veralteten,
verschwommenen Idealen, das Spielen mit bedeutungslosen Symbolen, das Pflegen einer allzu
üppigen Geselligkeit vor. Wieder andere erklären sie für Feinde des weiblichen Geschlechts.
Und endlich kehrt in fast allen mündlichen und schriftlichen Angriffen, mit denen die Freimaurer bedacht werden, der Vorwurf der Geheimtuerei, der Absonderung und der Verschleierung wieder. Wir wollen hier nur auf die beiden letzten Vorwürfe eingehen. Die anderen sind schon früher zur Sprache gekommen.
Der Ausschluß der Frauen vom Bunde muß den Außenstehenden in der Tat eigentümlich berühren. Er
erklärt sich zunächst durch die Tradition: fast alle jene freundschaftlichen Geistesbünde, auf die die
Freimaurerei als auf ihre Ahnen zurück~ blickt, waren Männerbünde. Neben ihnen entstanden hier und
da weibliche Parallelbünde (man denke etwa an die Mönchs- und Nonnenorden verschiedener
Religionen), die es aber meist nicht zu hoher Blüte brachten, weil die weibliche Natur weniger zur
kameradschaftlichen Vereinigung mit anderen Frauen als zur treuen Anhänglichkeit an das
Familienband neigt.
Auch in der Freimaurerei sind zu verschiedenen Zeiten Versuche mit weiblichen Logen, auch Versuche mit gemischten Logen gemacht worden. Aber weder diese noch jene haben sich bis jetzt bewährt. Daß die Mitarbeit der Frauen namentlich bei den sozialen Werken der Freimaurer unentbehrlich ist, und daß eine Geistesbewegung nicht auf eines der beiden Geschlechter beschränkt werden kann, ohne sich eines Teiles ihrer Kraft zu berauben, das empfinden die Freimaurer natürlich selber; es ist nur sehr schwer, die richtige Form zu finden, in der sich diese Mitarbeit vollziehen kann, ohne das traditionelle Logentum zu berühren. Es ist das dieselbe Schwierigkeit, die das Logentum in seiner allen Reformbestrebungen sich widersetzenden Eigentümlichkeit jeder von außen an sie herantretenden Forderung gegenüber macht.
Vielleicht wird auch in der Frauenfrage, die neuerdings wieder lebhaft im Bunde erwogen wird, jener Weg beschritten werden, der in Gestalt des "Vereins deutscher Freimaurer" schon manche anderen Lösungen gebracht hat. Viel ernstlicher als der Vorwurf der Frauenfeindschaft und als jeder andere Vorwurf, der den Freimaurern gemacht wird, ist die letztgenannte: die Geheimnissucht. Warum schließen die Freimaurer sich ab?
Warum öffnen sie ihre Tore nicht jedermann? Warum fordern sie von dem Eintretenden das Versprechen der Verschwiegenheit? In diesen Fragen gipfeln alle wie immer gearteten Angriffe; durch den geheimnisvollen Charakter des Bundes werden sie genährt. Darum muß diesem Punkte hier noch eine Betrachtung gewidmet werden.
Die Geheimhaltung ist ein Rest aus der Zeit der Zünfte. Das Bau~ und Steinmetzgewerbe hielt einst,
wie die anderen Gewerbe auch, seine Künste und Verfahren geheim. Der Gebrauch der feineren
Werkzeuge (Zirkel, Winkelmaß usw.), die Kunst des Gewölbebaues und anderes wurde im
geschlossenen Kreise, der Zunftgenossen bewahrt und an die nachfolgende Meisterschaft unter heiligen Eiden weitervererbt.
Diese Geheimhaltung der alten Werkgenossenschaften behielt die englische Großloge und die von ihr ausgehende allgemeine Freimaurerei bei, weil sie mit ernsten Verfolgungen zu rechnen hatte. Das Verschwiegenheitsgelübde galt nun nicht mehr den Handwerksgeheimnissen; es galt dem gegenseitigen Vertrauensverhältnis, das sich in symbolischen Bräuchen und Erkennungszeichen ausdrückte. In jener Zeit, im 17. und 18. Jahrhundert gab es eine ganze Reihe von Gesellschaften, die auf dieselbe Weise ein verborgenes, gegen die Außenwelt sich verschließendes Leben führten. Daß die heutige Freimaurerei immer noch daran festhält, könnte man mit dem konservativen Zug der Freimaurerei begründen, den wir schon wiederholt festgestellt haben.
Aber diese Begründung würde kaum ausreichend sein; denn die Freimaurer müssen doch selber erkennen, wie viel Schaden ihrem Ruf in der zeitgenössischen Welt dies Festhalten an dem Geheimnis tut. Wenn jemand verdächtigt wird, kann er gar nichts Unklügeres tun, als sich zu verstecken und einen Schleier über sein Tun zu breiten.
Das lenkt gerade die Aufmerksamkeit auf ihn hin und gewährt den unerhörtesten Gerüchten über seine Schändlichkeit einen Schein von Glaubwürdigkeit. Die freimaurerische Geheimhaltung liegt im Wesen der geistigen Verbrüderung begründet. Warum haben wohl die Mysterienkulte im alten Griechenland eine so strenge Geheimhaltung geübt? Von Verfolgungen war da keine Rede, und daß sich Männer wie Pindar, Sophokles und viele andere, die zu den Eingeweihten gehörten, für "lichtscheue Dinge“ hergegeben hätten, kann man gewiß nicht annehmen. Und warum haben auch die alten Christen in den ersten Jahrhunderten ihre Versammlungen, ihre Symbole und Lehren vor der Öffentlichkeit verborgen? Die theologische Forschung hat festgestellt, daß diese Geheimhaltung der Christengemeinden in einer Zeit fortgesetzt und erst recht ausgebildet wurde, als die Christengemeinden nicht mehr verfolgt wurden. Was mag der Grund gewesen sein? Diese Frage muß man besonders an die katholischen Gegner der Freimaurer richten. Waren denn die alten Christen, waren die großen Kirchenväter, ein Ambrosius, ein Augustinus, ein Origenes, die die Geheimhaltung ausdrücklich gefordert und gebilligt haben, auch ein lichtscheues Gesindel, wie man die Freimaurer so gern tituliert?
Nein, diese geschlossenen Gemeinden waren des Glaubens, daß sie ein heiliges Geheimnis zu hüten hätten und ihre Mitglieder nur durch Verschwiegenheit Schritt für Schritt in dies Geheimnis Eingang gewinnen könnten, Derselben Meinung sind auch die Freimaurer. Wenn man aber fragt, was für ein Geheimnis das sei, so kann die Antwort darauf nur lauten, das läßt sich nicht aussprechen, es läßt sich nur erleben. Die Profanation dieses Geheimnisses ist gar nicht möglich. Wenn auch die Träger und Hilfsmittel des Geheimnisses: die Symbole und Riten aller Welt bekannt sind - was die Freimaurer an solchen Dingen ihr eigen nennen, kann man in zahllosen Verräterschriften in den Buchhandlungen finden -, so bleibt doch der Kern des Geheimnisses verhüllt und nur dem Verstehenden (dem Epopten, wie man in Eleusis sagte) zugänglich.
Wenn die Freimaurerei in unserer nach Öffentlichkeit, nach Massenkultur drängenden Zeit nur die eine Mission erfüllte, das Verständnis für den Wert dieses unaussprechbaren Geheimnisses zu erhalten und neu zu wecken, so hätte sie genug getan, um ihr Dasein zu rechtfertigen. Das Beste in der Welt, liegt nicht auf der Straße, sondern muß im stillen Kämmerlein gesucht werden. Das Schönste im Leben ist nicht Lärm und Öffentlichkeit, sondern Stille und Verschwiegenheit. Nur wo Verschwiegenheit ist, gedeiht das herzliche Vertrauen von Mensch zu Mensch, ohne das alle Bemühungen um eine sittliche und menschliche Regeneration vergeblich sind.
Die Exklusivität der Freimaurer hat also ihren guten Sinn; sie ist nur scheinbar unzeitgemäß, in Wahrheit ist sie ein unentbehrliches Glied in der Erfüllung derjenigen Aufgaben, die der Gegenwart gestellt sind. Es wäre aber irrtümlich, anzunehmen, daß das ganze Wesen der Freimaurerei in dieser Exklusivität sich erschöpfte. Vielmehr wendet sich die Botschaft, die sie zu verkünden hat, an die einfachsten und allgemeinsten Regungen in der Menschenbrust. Ein jeder, der das Herz auf dem rechten Fleck hat, kann und soll sie verstehen. Kein Angriff, wie wohlbegründet er auch scheinen mag, und mit wie großer Machtfülle er auch durchgeführt sein mag, kann auf die Dauer dem Bunde Schaden tun. Das zeigte sich nicht nur in Amerika, wo jener Sturm gegen die Freimaurer, der stark genug war, um einen großen Teil der Logen hinwegzufegen, doch nach wenigen Jahren wieder sich so völlig gelegt hatte, daß das Logenwesen einen weit größeren Umfang gewann als zuvor. Dasselbe hat sich nach jedem Angriff gezeigt. Ähnlich wie das alte Christentum aus jeder Verfolgung gestärkt und gefestigt hervorging, ist auch dieser Bund der freien Maurer den Verfolgungen immer nur eine Zeitlang und in einem begrenzten Raume erlegen. Er kam wieder wie das Grün im Frühling. Er gewann das verlorene Gebiet zurück und gewann neues Gebiet hinzu.
Neuer Anfang
So steht auch jetzt - im -Jahre 1948 - die deutsche Freimaurerei, wie man mit Bestimmtheit voraussagen kann, vor einer neuen Blütezeit. Dazu hat, ohne es zu wollen, die Feindschaft der Nationalsozialisten das ihrige beigetragen. Die Propaganda ist nämlich ein zweischneidiges Schwert; sie macht nicht nur das, was sie auf den Schild er, hebt, bekannt, sondern auch, was sie bekämpft. Vor zehn oder zwanzig Jahren gab es viele Deutsche, die niemals etwas von Freimaurerei gehört hatten, oder sie für eine längst vergangene, mindestens ganz veraltete Einrichtung hielten. Die Propaganda gab ihr eine unerhörte Aktualität. Auf abertausend Fragebogen mußten Männer und Frauen jeden Alters die Frage beantworten, ob sie einer Loge angehörten oder angehört haben. Die meisten wußten überhaupt nicht, was eine Loge ist. Sie wurden auch durch den Parteiunterricht nicht viel klüger; aber sie bekamen Respekt vor einer Sache, der man die Ehre einer derart umfassenden Kriegführung antat.
In der Tat, was so vielen Stürmen standgehalten hat, läßt sich nicht umbringen, kann auch niemals veralten. Es hat sein Daseinsrecht bewiesen; es hat sich als ein lebenskräftiges Glied in die Kette der menschlichen Kulturerscheinungen eingereiht und kann nicht wieder daraus entfernt werden. Gelehrte Kritiker haben zwar darauf hingewiesen, daß die Geschichte der Freimaurerei im 18. Jahrhundert glänzender war als im 19. Jahrhundert und ziehen daraus den Schluß, daß der Bund sich allmählich überlebt hat und überflüssig geworden ist. Wir haben vorher solche Ansichten führender Köpfe kennengelernt und es ist Tatsache, daß Männer des Geistes sich vor der Weimarer Zeit zahlreicher im Bunde befanden als nach dieser Zeit. Das könnte aber auch daran liegen, daß sich im Laufe des 19. Jahrhunderts die Wissenschaften immer mehr spezialisiert haben und in der Philosophie und Kunst der Geist des Individualismus immer mehr die Oberhand gewonnen hat. Also war der sogenannte Zeitgeist dem Bunde und überhaupt jeder Art von Bundesschließung im 19. Jahrhundert und im Anfang des 20. Jahrhundert weniger günstig als im 18. Jahrhundert. Die Menschen wollten für sich bleiben, und wenn sie sich zusammenschlossen, dann geschah es zu bestimmten wirtschaftlichen oder politischen Zwecken.
Das hat sich inzwischen gründlich geändert. Die letzten Jahrzehnte mit den furchtbaren Kriegen und Umwälzungen haben den Glauben an den Fortschritt des Menschengeschlechts ebenso sehr erschüttert wie den Glauben an wirtschaftliche oder politische Machtkämpfe als Wegbereiter dieses Fortschritts. Vor einem Trümmerhaufen steht am Schlusse des zweiten Weltkrieges unser deutsches Volk. Ein jeder fühlt, daß von Grund aus neu begonnen werden muß, und der Verlust aller bisherigen Maßstäbe und Handhaben zwingt uns dazu, mit dem Einfachsten und Wesentlichsten und Allgemeinsten anzufangen. Es handelt sich heute ebenso wie vor vierhundert und vor zweihundert Jahren um eine Reformation im wörtlichen Sinne, also um eine Rückbildung und Rückführung auf das Alte und Älteste, um eine Rückkehr zum Ursprung der menschlichen Gesittung und Vergesellschaftung.
In der Zeit Luthers war es die Veräußerlichung und Verweltlichung der Kirche, die ihn den einfachen Weg zu Gott mit Hilfe des urkundlichen Gotteswortes suchen hieß. Am Anfang des 18. Jahrhunderts war es der blutige Kampf der Konfessionen und der mit Heftigkeit sich ankündigende soziale Umschichtungsprozeß, der die Menschen den Frieden der Brüderschaft suchen ließ. Und heute? Heute ist es der Zusammenbruch unseres Vaterlandes und vielleicht noch ein viel weiter und ,viel tiefer greifender Zusammenbruch, der diejenigen, die noch Lebensmut und Zukunftsglauben in sich haben, nach einer Gemeinschaft Ausschau halten , heißt, die aus Trümmern Wohnstätten, aus Chaos Kosmos zu schaffen und Haß und Not in Liebe und Trost umzuschaffen unternimmt.
Ist es zu verwundern, daß die deutschen Freimaurer im Jahre 1948 guten Mutes sind? Ihre Zahl ist zwar zusammengeschmolzen; sie sind arm geworden und stehen, da ihnen die Aufnahme jugendlicher Mitglieder all die Jahre hindurch unmöglich war, durchweg in einem höheren Lebensalter. Aber sie fühlen, daß sie gebraucht werden. Wo Schutt ist, sind Bauleute nötig; wo Vernichtung ist, drängt alles, was Leben hat, nach Wiederaufrichtung. Jene müde, hoffnungslose Resignation, die im Jahre 1945 von einem so großen Teile des deutschen Volkes Besitz ergriffen hatte, konnte unter den Freimaurern niemals Boden gewinnen, weil sie dem aktiven Lebensglauben widerspricht, der im Wesen ihrer Brüderschaft liegt. Pessimismus ist in einer Gemeinschaft, die sich zum Bauen in jedem Sinne berufen fühlt, unbekannt. Selbst wenn alle Werkzeuge fehlen, bleibt dem Menschen noch immer sein feinstes und kostbarstes Werkzeug erhalten: seine Hand. Und wenn alle Baustoffe fehlen, hat er um so mehr Zeit, den wertvollsten Baustoff zu bearbeiten, den ihm der Weltenmeister anvertraut hat: seine eigene Seele.
Wenn ich von Reformation gesprochen habe, könnte mancher Leser glauben, ich erwartete oder verlangte tiefgreifende Änderungen des überlieferten Freimaurerwesens. Das ist keineswegs der Fall. Vor allen Dingen wird es keine wesentlichen Änderungen in der freimaurerischen Formenwelt geben.
Man hört so oft, daß die Form das Wechselnde und die Idee das Bleibende sei; denn jene sei etwas Äußerliches, diese das Innerliche, jenes die Schale, diese der Kern. Auch unter den Freimaurern hat es nicht wenige gegeben, die der Meinung waren, der Bund müsse sein überliefertes Gewand abwerfen, seinen anstößigen und altmodischen Namen ablegen und in neuer Gestalt als ein rein geistiger Humanitätsbund, als eine ethisch-demokratische Gesellschaft weiterleben. Wer so denkt, vergißt, daß der Mensch ein sinnliches Wesen ist und daß die großen Ideen nur dann Macht über die Völker gewonnen haben, wenn sie faßbare Gestalt angenommen haben. Gott muß Mensch, Geist muß Leib werden, um hier auf Erden wirken und handeln zu können. Und hat eine Idee einmal eine feste Form bekommen, so lebt sie in dieser Form weiter und entwickelt sich mit derselben Notwendigkeit, wie eine Pflanze sich aus einem Keim entwickelt. Was ist das Dauerhafte am Christentum? Die Gestalt und Geschichte, die uns im Neuen Testament vor Augen geführt wird. Die Deutungen haben sich gewandelt. Viele Christentümer sind im Laufe der zwei Jahrtausende ans Licht getreten und haben sich über die wahre Bedeutung der Heilsgeschichte und über Natur und Absichten Jesu entzweit. Die Person selber und was von ihr erzählt wird, ist geblieben. Auch die Reformatoren haben das große Symbolum, das sichtbar gewordene Wort nicht etwa beiseite schieben wollen; im Gegenteil, sie wollten es noch näher heranziehen, es noch deutlicher den Menschen vor das Angesicht bringen. Ihre Reformen bezogen sich nur auf die Begriffe, die man an diese Fleischwerdung des Göttlichen geknüpft und auf die technischen Mittel und Wege, die man zur Verehrung und Aneignung jener Gottesoffenbarung eingeschlagen hatte.
Bei den Freimaurern fehlt eine persönliche Verkörperung des Göttlichen. Zwar hat sich eine Legende von einem kunstreichen Meister erhalten, der bei dem Bau des salomonischen Tempels beschäftigt war und erschlagen worden sein soll, und diese Legende hat auch in die symbolischen Handlungen Eingang gefunden; aber weder dieser noch andere Versuche durch eine Art Heilsgeschichte das Bild werktätig-brüderlichen Schaffens an eine Person oder ein Ereignis der Vergangenheit zu knüpfen, ist für den Bund von ausschlaggebender Bedeutung geworden. Das Licht, das von dem Meister von Nazareth ausgeht, läßt sich weder überstrahlen noch ersetzen. Er bleibt für die europäische Kultur das gültige und eindrucksvolle Bild des menschwerdenden Gottes. Auch die Freimaurer haben kein anderes. Aber sie fügen das Bild von dein zu erbauenden Tempel und von den im heiligen Rhythmus der Bruderliebe daran arbeitenden Werkleuten als das besondere Symbol ihrer Gemeinschaft hinzu. Dieses Symbol ist so deutlich, daß es dem einfachsten Menschen verständlich ist, und zugleich so weitherzig, daß es keiner Glaubensanschauung zu nahe tritt.
Ein weiterer Vorzug ist, daß es in solchem Grade positiv ist, aß für Verneinung und Bekämpfung, anderer Anschauungen kein Raum bleibt. Sache der Steinmetzen und Bauleute ist nicht das Zerstören, auch nicht das Schelten, Bemängeln und Klagen, sondern das Arbeiten und Aufrichten, das Ordnen und Zusammenfügen. Daher fehlt den Freimaurern jegliche Freude an der Polemik, eben, so auch jede Geschicklichkeit in der Verteidigung. Schon oft haben die Kämpfer gegen die Freimaurerei sich gewundert, daß ihnen auf ihre scharfen Herausforderungen so wenig Antwort geworden ist. Für Schwäche oder für Hochmut hat man diesen kargen und zahmen Widerhall gehalten, den alle die massiven Angriffe und schweren Verfolgungen gefunden haben, die im Laufe der zweieinhalb Jahrhunderte über die Brüderschaft hinweggebraust sind. Sie ist still ihres Weges weiter gegangen, nicht aus Hochmut oder Schwäche, sondern weil "die Kunst“ nur im Frieden gedeiht, und weil das ernste und hohe "Spiel" des freimaurerischen Symbolkultes die ganze Aufmerksamkeit der Brüderschaft in Anspruch nimmt.
Mit dieser Symbolik ist aber auch die eigenartige Verfassung des Bundes untrennbar verbunden. Daher wird auch der verfassungsmäßige Aufbau der Großlogen und Logen sich nicht wesentlich ändern. Die Mitglieder einer Loge werden sich auch weiterhin in Lehrlinge, Gesellen und Meister teilen und werden durch feierliche, Handlungen in ab, gemessenen Zeiten zu diesen Gradstufen befördert werden. Ein erwählter Meister, der den "Stuhl" innehat, wobei man an den Richterstuhl alter Zeiten, aber auch an den Lehrstuhl oder Königsstuhl denken mag, wird die Loge leiten, während zwei "Aufseher" ihm zur Seite stehen, die etwa den Poliereg (Parlierern) des Baugewerkes zu vergleichen sind. Entsprechend ist die Verwaltungsbehörde der Großloge gebildet, die viele Einzellogen zu einer organischen, durchaus souveränen Einheit zusammenfaßt. Die Wahlverfahren sowie das Ehrengerichtsverfahren und verschiedene besondere Ausschüsse verraten eine lange und sorgfältige Entwicklungsarbeit, wobei dann immer wieder die Einrichtungen älterer Genossenschaften anklingen. Die merkwürdigen, zuweilen tiefsinnigen Fragespiele (Prüfungsgespräche, Katechesen) und die in ihrer Bedeutung für das gegenwärtige Freimaurertum stark überschätzten Erkennungszeichen weisen deutlich auf alte Zunftbräuche hin, aus jener Zeit, wo die Vorrechte und Kenntnisse der einzelnen Gewerke noch streng gehütet wurden. Aber darin gerade liegt die Kraft und Dauerhaftigkeit solcher Bräuche, daß sie ihre reale Bedeutung verloren und einen symbolischen Wert erlangt haben, der sie in das geistige und religiöse Gebiet erhebt. Das ist z.B. auch mit den gemeinsamen Mahlzeiten der Freimaurer, ihren sogenannten Tafellogen der Fall. Hier fühlt man sich an die kultischen Liebesmahle erinnert, die in früheren Bruderschaften bis in die graueste Vergangenheit zurück üblich waren. Es läßt sich aber auch eine Verwandtschaft mit der christlichen Agape nicht verkennen.
Und an dieser Stelle tritt uns die Frage der Urverwandtschaft aller Menschen, die viel besprochene und zu grauenvollen Exzessen mißbrauchte Rassenfrage entgegen. Wie denken die Freimaurer über das Rassenproblem? Und welche Stellung wird die deutsche Brüderschaft in Zukunft zu diesem Problem einnehmen? Wer sich mit der Völkerkunde beschäftigt und jene oft so mächtigen Bünde studiert, deren Bedeutung zuerst Heinrich Schurtz in seinem Werke: "Altersklassen und Männerbünde" ans Licht gestellt hat, der muß zu dem Schlusse kommen, daß sie samt und sonders aus dem Bedürfnis hervorgegangen sind, eine verwandtschaftliche Beziehung zwischen Menschen zu schaffen, die nicht verwandt, nicht gleicher Abkunft sind. Von jeher haben die Bande des Blutes als die festesten und heiligsten gegolten.
Nun bringt es aber das menschliche Leben mit sich, daß man auch mit Nichtblutsverwandten, mit Angehörigen fremder Familien, Geschlechter, Stämme zusammenarbeiten muß. Z. B. Aufgaben wie die Jagd, der Ackerbau, der Häuserbau, vor allem aber auch die: religiöse, die politisch-soziale und die künstlerische Betätigung sind aus natürlichen Gründen oder nach Anschauung der früheren Menschheit Sache einer über den Familien, und Geschlechterzusammenhang hinausgehenden Gemeinschaft.
Wie aber können die Menschen, die an solchen Aufgaben gemeinsam arbeiten, Vertrauen zueinander gewinnen? Wie können sie die innere Harmonie, den geistig-leiblichen Gleichklang gewinnen, ohne den jene Gemeinschaftsarbeiten nicht gedeihen können? Auf diese Frage wußte man in alter Zeit keine: andere Antwort zu geben als: durch eine künstliche Verwandtschaftsschließung, durch einen magischen Austausch von Kraft und Einsicht, Infolgedessen nahm man magische Handlungen vor (z.B. vollzog man eine Blutmischung, veranstaltete ein Brudermahl), und war fest überzeugt, daß dadurch die fehlende Blutsgemeinschaft hergestellt und ein inniger Seelenbund geschlossen worden sei. Bei diesen magischen Aufnahme- und Verbrüderungshandlungen glaubte man die Gottheit anwesend und mitwirkend, und zwar diejenige Gottheit, die man als Meister und Beschützer derjenigen Aufgaben, die man erfüllen wollte, also z.B. des Krieges oder der Heilkunst oder der Bautätigkeit, verehrte. Diese Gottheit wurde nun zum Schutz- und Bundesgeist der geschlossenen Verbindung. Wer neu in die Gemeinschaft aufgenommen oder in höhere engere Ringe eingeführt wurde, der mußte sich diesem Bundesgeiste gleichsam angeloben; ja er trat mit diesem Geiste selber in ein unmittelbares Verwandtschaftsverhältnis. Man dachte sich nämlich, daß der Bund mit seinem Schutzgeist seelisch-leiblich verknüpft sei und irgendwie von ihm abstamme, weshalb sich die Mitglieder des Bundes auch nach ihm benannten und sinnbildliche Zeichen benutzten, die direkt oder indirekt auf jenes geistige Wesen hindeuteten. Es trat also in den feierlichen Aufnahmezeremonien, die bei fast allen Bünden dieser Art üblich sind oder waren, neben den Gedanken der Verwandtschaftsschließung mit den Menschen die Bundesschließung mit der Gottheit. Der Neuaufgenommene wurde gleichsam von neuem geboren; er trat in ein anderes, höheres Leben ein.
Die Wiedergeburt "aus dem Geiste", von der im Neuen Testamente und in den Mysterienbünden der alten und der neueren Zeit soviel die Rede ist, geht auf jenes Urerlebnis der künstlichen Verwandtschaftsschließung zum Zweck hoher Gemeinschaftsaufgaben zurück (Näheres über alle diese Dinge findet man in meinem Buche: "Symbolik der Mysterienbünde", 2. Aufl. 1922). In Zeiten aufgeklärten Denkens nehmen diese Vorstellungen natürlich einen geistigeren Charakter an. Aus den magischen Handlungen werden symbolische Handlungen; aus dem Bundesgeist wird die große göttliche Allkraft; aus der engen, primitiven Männergenossenschaft wird der umfassende Geistesbund. Die Freimaurerei ist himmelweit verschieden von den alten Mysterienvereinen, von Kriegerbünden, Medizingesellschaften und anderen Gebilden primitiver Kulturstufen, über die uns die Völkerkunde berichtet; aber trotzdem handelt es sich auch in der Freimaurerei um das gleiche menschliche Bedürfnis und Erlebnis: um die Befreundung des Feindlichen, um die Verbrüderung des Fremden - im Angesicht Gottes.
In verhängnisvoller Verkennung dieser alten Wahrheit von der Befreundung des Feindlichen hat der Nationalsozialismus seine Rassenlehre aufgestellt. Er hat gewähnt, daß durch Rassenreinheit die Kultur gefördert, durch Rassenmischung die Kultur zerstört wird. Wir können uns hier nicht in die schwierigen Fragen der Züchtung und Auslese verlieren; wir wollen hier nur betonen, daß menschliche Kultur überhaupt erst durch die Verschmelzung verschiedenartiger Volks- oder Rassetypen entstanden ist und daß jedes Volk und jede Völkerfamilie immer wieder der Auffrischung durch andere Völker bedarf, ebenso wie auch Blütezeiten der Kunst durch das Eindringen und Verarbeiten fremder, neuer Formen und Gedanken entstehen. Die Berührung mit dem Fremden wirkt befruchtend und bereichernd. Wer sich abschließt, wer auf seine "Herrenrasse" pocht und andere Arten des Lebens und Glaubens verachtet, der verarmt und gerät in Verfall. Was sich am Leben erhalten und sich verstärken und vertiefen will, muß nach Ergänzung suchen, wie der Mann nach dem Weibe, und wie alles Geschaffene nach seiner Antithese verlangt.
Die Freimaurerei ist eine Schöpfung der weißen Rasse, eine christlich-europäische Einrichtung. Den schweren Schritt zu den farbigen Rassen und zu den Bekennern nichtchristlichen Religionen hat sie nur zögernd gemacht und nicht alle Großlogen haben sich zur prinzipiellen Aufnahme von Nichtchristen oder von Menschen anderer Hautfarben entschließen können. In Amerika entstanden Negergroßlogen, die lange Zeit um ihre Anerkennung haben kämpfen müssen. In Deutschland ist über die Zulassung von Juden lange und heiß gestritten worden. Jedoch handelte es sich bei der Aufnahme jüdischer Mitbürger nur um die israelitische (mosaische) Konfession, nicht um einen Rassengegensatz. Getaufte Juden hat es in allen Großlogen gegeben und niemand ist es in den Sinn gekommen, die Würdigkeit eines Mannes zu bezweifeln, der sich aus innerer Überzeugung für die europäisch-christliche Kultur entschieden hat. Wer freilich diese Kultur verneint, wer in einem Gegensatz zu dem Geistesleben unseres Volkes beharrt, der kann wohl kaum das ehrliche Verlangen nach Zugehörigkeit zu einer deutschen Loge haben. Ebenso wird es das Naturgegebene sein, daß es für die einzelnen Völker und Völkerfamilien auch gesonderte Freimaurersysteme gibt. Nur müssen sie sich gegenseitig achten und in Freundschaft von einander zu lernen bereit sein.
Dazu wird gerade die deutsche Brüderschaft nach der bitteren Lehre, die ihr zuteil geworden ist, in erhöhtem Maße willig sein. Hat doch der Deutsche von jeher eine besondere Lust am Wandern in die Fremde gehabt. Neues kennenzulernen, Andersartiges sich anzueignen war stets das innige Bestreben der ernstesten und kernigsten deutschen Menschen. Diese Lust am Wandern ging oft so weit, daß die Heimat vergessen und das eigene Wesen verachtet wurde. So, falsch und unwürdig eine solche Selbstaufgabe der naturgegebenen Eigenart auch ist, so verrät sich doch darin der Drang nach jenem soeben gekennzeichneten Ausgleich der Gegensätze, der sich bei tief veranlagten Naturen bis zur völligen Hingabe des eignen Wesens steigert. Und das eben ist es, was in der Gegenwart von uns Deutschen gefordert wird, so daß auch in diesem Punkte die Forderung an unsere Generation mit den Grundlagen der Freimaurerei zusammenstimmt.
Was war der Wesensgehalt der urmenschlichen Bundesschließung? Verbrüderung und Wiedergeburt in und mit Gott. Ebendies fordert das Schicksal gebieterisch von den Menschen der Gegenwart. Entzweiung und Untergang sind die Hauptkennzeichen des heutigen Geschlechts. Eine Abendstimmung hat sich eines großen Teiles unseres Volkes bemächtigt; der Schatten des Todes hat sich weiter und weiter verbreitet; sittliche Zersetzung greift wie eine Epidemie um sich. Niemand kann sich verhehlen, daß eine tödliche Erkrankung unseren ganzen Volksorganismus erfaßt hat. Es handelt sich da nicht um die wirtschaftliche und politische Lage. Mag diese so schlecht sein wie sie will; wir dürfen trotzdem auf eine materielle Wiederherstellung in absehbarer Zeit rechnen. Viel schlimmer ist die innere Not, die Seelennot. Gegen sie kann von außen her, durch Änderung der äußeren Verhältnisse sehr wenig ausgerichtet werden. Für die Seelennot ist nur ein Heilkraut gewachsen: die Umkehr der Gesinnung, die Wiedergeburt. Dies Heilkraut ist von den Weiser, des Menschengeschlechts, von den großen Propheten und Führern in kritischen Zeiten schon immer verordnet worden; wir brauchen nur an den Meister von Nazareth zu denken ("Es sei denn, daß jemand von neuem geboren würde, kann er nicht in das Reich Gottes kommen") oder an den Meister von Weimar, den Freimaurer Goethe mit seinem berühmten Liede "Selige Sehnsucht", dessen Schlußstrophe lautet:
Und solang' du das nicht hast,
Dieses Stirb und Werde,
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.
Wie in der Natur ein ewiger Wechsel von Sterben und Geborenwerden, von Sommer und Winter herrscht und wie aus dem Dunkel sich immer wieder das Licht emporringt, so gibt es auch für den Menschen keinen anderen Weg zum Licht, als durch das Dunkel hindurch. Das ist der Gedanke, der das ganze freimaurerische Bundesleben beherrscht, der insbesondere in der Aufnahrnehandlung und in der Totenfeier, der sogenannten Trauerloge, zum Ausdruck kommt. In einem alten, freimaurerischen Fragestück heißt es: "Warum sind Sie ein Freimaurer geworden? - Weil ich im Finstern war und das Licht sehen wollte." Dieser Wille zum Licht und Glaube an das Licht verbindet sich für den Freimaurer auf eine besondere Weise mit dem Gedanken an den Tod. Die Todesfurcht zu überwinden und mit dem Tode als mit einer anderen Form des Lebens sich vertraut zu machen, war schon in den Mysterien von Eleusis ein Hauptpunkt dessen, was den Mysten und Epopten zugemutet und durch die großartigen nächtlichen Vorführungen im verschwiegenen Tempel jedem unverlierbar eingeprägt wurde Und diese Vertrautheit mit dem Tode hing mit dem Totenkult zusammen, der, wie wir sagten, zu den Hauptbestandteilen fast aller derartiger Genossenschaften gehört. So ist es auch im Freimaurerbunde. Der verstorbene Bruder wird nicht als tot, nicht als erloschen betrachtet; er ist, wie die Freimaurer in ihrer Sprache sagen, "in den ewigen Osten eingegangen"; in den Osten, wo das Licht erwacht und von wo es den täglichen Siegeszug über den Himmel macht, Der Verstorbene lebt als Lichtbruder, als Schutzgeist und Vorbild fort; er hat den großen Übergang vollendet, den jeder einst vollbringen muß, ja den der wahre Mensch schon hier auf Erden erleben soll, in jener zweiten Geburt, von der Goethe in jenem Liede spricht und auf die die freimaurerischen Handlungen und Bundessitten deutlich hinweisen.
Ich brauche kaum zu sagen, wie zeitgemäß diese Auffassung in der Gegenwart ist, wo der Tod in jeder
Gestalt so reiche Ernte gehalten hat und die Sehnsucht nach einem von Grund aus neuen Leben alle
höherstrebenden Menschen erfüllt. Freilich erscheint vielen der Übergang zu dem neuen Leben als ein
unbegreifliches Wunder. Viele schauen gen Himmel und warten darauf, daß sich eine rettende Hand
aus den Wolken zu uns herabstrecken werde. Andere hoffen auf die Geister, auf die okkulten Kräfte,
die angeblich in dein metaphysischen Zwischenreich herumschwärmen und sich der Deutschen
annehmen werden. Die Freimaurer sind weit entfernt davon, derartige Hoffnungen zu schelten und
grundsätzlich zu verwerfen. Wohl dem, der an ein unmittelbares Eingreifen Gottes oder guter
Hilfsgeister zu glauben vermag! Aber die Freimaurer behaupten, daß alle diese Hoffnungen, diese
Glaubensgebilde, diese mystischen Forschungen nur dann Wert haben, wenn sie die Menschen
innerlich verwandeln, wenn das Wunder, das sie verheißen, sich in dem Menschen vollzieht.
Von innen heraus muß die Erneuerung kommen. Wie aber kann das geschehen? Welches ist die Kraft, die die Seelen neu und licht macht? - Die Freimaurer kennen diese Kraft; sie ist eines ihrer großen "Geheimnisse", vor denen die Öffentlichkeit eine so unüberwindliche Scheu hat. Und doch ist dies Geheimnis das Einfachste und Natürlichste, das uns allen das Leben gegeben hat und die ganze Natur durchdringt. Es ist die Kraft der Liebe! Die Liebe bewirkt die Wiedergeburt; die Liebe zu den Brüdern, die dem Freimaurer bei seiner Aufnahme als die vornehmste Pflicht auf, erlegt wird, aber nicht nur als Pflicht auferlegt, sondern als ein Erlebnis vor Augen geführt, als eine leuchtende Wahrheit gezeigt und eingeprägt wird. Diese Liebe erstreckt sich aber nicht bloß auf den kleinen Kreis der Logenmitglieder, die den Neuaufgenommenen umgeben; sie dehnt sich aus auf alle Volksgenossen, auf alle Menschen, auf alle lebendigen Geschöpfe, auf das ganze Universum. Der berühmte Bruderhymnus des heiligen Franziskus klingt dem echten Freimaurer nicht wie eine Übertreibung, sondern wie eine schlichte Feststellung eines erlebten Tatbestandes.
Daß dieses Bruderevangelium der Freimaurer eine hervorragende Aktualität hat, - weiß jeder gute Deutsche. Eine deutsche Wiedergeburt ist ohne eine Erneuerung der Brudergesinnung gänzlich unmöglich. Die Zersetzungserscheinungen haben ihre tiefste Ursache darin, daß einem großen Teile des deutschen Volkes das wahre Heimatgefühl abhanden gekommen ist. Der Mensch ist nur stark und frei, wenn er Heimat in sich und um sich hat, wenn er sich selber und seine Umgebung nicht mit mißtrauischer Feindseligkeit, sondern mit liebendem Vertrauen betrachtet. Das gerade ist die Grundlage des Freimaurertums. Die Loge, obwohl sie Männer verschiedener Berufe, verschiedener Inter, essen, verschiedener Ansichten und Absichten vereinigt, gibt dem Freimaurer ein unbedingtes Heimatgefühl, ein Vertrauen in die gegenseitige Liebe und Hilfsbereitschaft der Menschen, das ihn auch in seinem übrigen Leben stützt und hebt. Er sieht in dem Fremden, der ihm auf der Straße begegnet, in dem politischen Gegner, in dem wirtschaftlichen Konkurrenten, keinen „Feind" mehr, sondern einen Menschen, der im letzten Grunde dasselbe wünscht und will wie er, also einen Gleichstrebenden, einen Freund.
Und wenn er mit jenem kämpfen und streiten muß, so treibt ihn nicht haßerfüllter Vernichtungswille; es ist nur eine Meinungsverschiedenheit über den Weg zum gleichen Ziel oder eine rein materielle Auseinandersetzung über ein von beiden begehrtes Gut. Wo Bruderglaube ist, streitet man nicht anders als in einer guten und innerlich einigen Familie. Und nun der zweite freimaurerische Grundgedanke, der mit dem ersten untrennbar zusammenhängt. Wer von Brudergesinnung erfüllt ist, dem ist auch die Arbeit heilig. Denn die Arbeit ist ihm dann das Mittel, Auseinanderstrebendes zusammenzufügen, Zerstörtes wiederherzustellen, Unvollkommenes zu vervollkommnen. Eine Mutter, die für ihr Kind arbeitet, söhnt sich mit jeder Arbeit aus. Die seelenloseste Arbeit wird ihr durch die Liebe seelenvoll. Im Grunde sind wir alle, gleichviel in welchem Berufe wir stehen, in eine Maschine eingespannt und müssen oft genug Arbeiten leisten, die uns an und für sich nicht befriedigen und beglücken können. Aber die Arbeit wird uns lieb, wenn wir sie als ein Mittel, als das einzige Mittel erkannt haben, uns selber, unser Volk aus der Erniedrigung herauszureißen und zu einem neuen Leben der Freiheit und der Schönheit emporzuführen.
Das ist der Sinn der freimaurerischen Heiligsprechung der Arbeit. Dem Freimaurer erscheint die Welt
-wie ein Tempel, wie ein Dom, der aber noch unfertig ist. An diesem Dom mitzubauen, ist
menschliche Bestimmung. Jeder Mensch ist ein " Maurer"; und nur wenn jeder sich dieses
Maurerberufes bewußt ist und in brüderlichem Rhythmus mit und neben den Baugenossen schafft und
wirkt, nur dann steigt der große Bau in die Höhe. An diesem Wunderwerke mitzutun, ist Sinn und
Zweck des Menschenlebens. Wer tatenlos beiseite stehen, wer gar hemmend in die Räder greifen will,
ist noch kein Mensch; er hat noch nicht erkannt, daß er durch Mitarbeit mit dem Bau aufwärts steigt,
daß als Mitarbeiter aufgenommen ist in den Kreis der Brüder, in den Kreis der wahrhaft Freien und
Glücklichen. Und nicht nur mitarbeiten soll der Mensch, nicht nur helfen soll er, die Welt in einen
Tempel umzuschaffen; er soll sich selber mit hineinbauen in diesen Tempel, soll sich selber
umschaffen zu einem lebendigen Stein, zu einem Bauglied, zu einer Säule dieses Tempels.
Dazu will die Freimaurerei ihre Mitglieder erziehen. Es ist die Quintessenz des Freimaurertum, daß die
Bruderliebe Tod in Leben verwandelt und daß dies neuerweckte Leben ein Leben, des Bauens und des
Gebautwerdens ist, indem der Mensch zum Maurer und zugleich zum Baustein gemacht wird.
So wie einst im Mittelalter die Bauleute jene herrlichen Dome bauten, die wir noch heute bewundern, sich eine Hütte errichteten, ganz nahe an dem Dome, und in dieser Hütte die Steine zuhauten, die Pläne zeichneten und die Ausführung des Baues in allen Einzelheiten berieten, vorbereiteten und Überwachten, so haben sich die Freimaurer geistige Bauhütten errichtet: Logen. Das Fremdwort Loge stammt wahrscheinlich von dem gutdeutschen Wort Laube (altdeutsch: Laubja) ab. Lauben nennt man noch heute die Hallen, die offenen oder gedeckten Gänge, die sich in alten Städten finden und die einst den Beratungen und der gemeinsamen Arbeit der Zünfte und anderer Vereine gedient haben. Auch andere Völker haben solche Lauben gehabt, wir brauchen nur an, die griechische Stoa zu denken, nach der eine berühmte Philosophenschule benannt ist. Diese Stoa, diese Laube kehrt auch in der Form des antiken Tempels und des Gemeinschaftshauses asiatischer, polynesischer und anderer Völkerschaften wieder.
Es ist fast immer ein offener von Säulen getragener Vorraum mit geschlossenen Innenkammern, daher wie geschaffen für die Versammlungen von Gemeinschaften, die teils in freier Öffentlichkeit mit und in der Gesamtheit arbeiten, teils in verborgener Stille Innenkultur treiben. Diese Halle oder Loge also dient den Freimaurern dazu, den geistigen Bau, an dem sie wirken, zu beraten, vorzubereiten, auszuführen.
In den inneren Kammern werden die Steine geformt, damit sie sich in den Bau einfügen - diese Steine sind, wie ich sagte, die Maurer selber. Dort werden auch die Pläne gezeichnet, werden, Bilder gemalt und Gleichnisse aufgestellt, durch die der Bau den Maurern deutlich vor die Seele tritt. Diese Pläne sind Ansprachen, meist ethischen und religiösen Inhalts, in denen dargelegt wird, wie der Mensch leben, was er tun und meiden soll, welches die wahren Pflichten sind, welches die wahren Tugenden und die wahren Freuden des Lebens. Und die Bilder und Gleichnisse sind musikalische und dichterische Werke, die man in der Loge vorführt; denn jedes Kunstwerk, jedes gute Musikstück oder Gedicht ist ja selber eine Art von Tempel, ist ein harmonisches, symmetrisches, nach den Regeln organischer Baukunst geschaffenes Gebilde; also ein Vorbild für "Maurer", ein Gleichnis, eine Stärkung, ein Trost für ihre Arbeit.
Die Freimaurer nennen ihr eigenes Tun und Treiben innerhalb des Bundes ebenfalls eine Kunst und zwar, wie ich er, wähnte, die "Königliche Kunst“, d.h. die höchste, die schwerste und' edelste Kunst. In der Tat kann es wohl keine höhere Kunst geben als die Maurerkunst, die mit lebendigen Menschen, nicht mit Tönen, Worten oder Farben baut.
Diese Königliche Kunst ist nur ein anderer Name für die Lebenskunst, für die Kunst des wahren
Menschentums, die von Herder, Goethe, Humboldt in den Mittelpunkt der gesamten Kulturbetrachtung
gestellt und geradezu als eine religiöse Aufgabe empfunden worden ist. Jene Zeit bezeichnete diese
Lebenskunst als Humanität. Das Wort Humanität ist, wie Ludwig Keller des näheren ausgeführt hat
(L. Keller: "Die geistigen Grundlagen der Freimaurerei und das öffentliche Leben". 2. Aufl. mit
Einleitung von A. Horneffer 1922), ein altes Kenn- und Schlagwort freier Brüderschaften und ist von
gegnerischer Seite absichtlich verdächtigt oder unabsichtlich mißverstanden worden.
Bald hat man die Anhänger des Humanitätsglaubens als gefährliche Kirchenfeinde und Atheisten, als egoistische Menschen- und Selbstvergötterer angeklagt und verfolgt, bald hat man sie als harmlose verstiegene Schwärmer, als Anhänger einer weichlichen, verschwommenen Mitleidsmoral und einer vaterlandslosen Allerweltsgesinnung verachtet. Aber Humanität bedeutet für die Freimaurer (wenigstens für die deutschen Freimaurer, die in Herder, Goethe, Ficht& Humboldt usw. ihre Vorkämpfer verehren) etwas ganz anderes. Vor allem ist ihnen die Humanität ein Erziehungsbegriff; er schließt eine Forderung an die Menschen ein, die Forderung nämlich, daß der Mensch sich zum Menschen, zum "Humanus" erziehen muß, weil er von Natur noch kein wahrer Mensch ist, sondern nur mit der Anlage zur Menschlichkeit geboren wird. Die Menschwerdung also ist die Aufgabe, die mit dem Ausdruck Humanität umschrieben wird. Und die Lösung dieser Aufgabe ist bis zu einem gewissen Grade eine künstlerische.
Wie der Steinmetz aus dem unbehauenen und ungefügen Block das Menschenbild herausmeißelt, so soll der Mensch das Persönlichkeitsideal, das in ihm als eine Möglichkeit ruht, zur Verwirklichung bringen. Das erfordert ein beständiges Bauen, ein Formen und Gestalten, kurz eine Erziehungstätigkeit, die man am besten mit der Tätigkeit des Künstlers vergleichen kann. Die Königliche Kunst der Freimaurerei geht aber noch einen Schritt weiter. Sie begnügt sich nicht damit, ihren Jüngern die künstlerische Formung ihres eigenen Selbst vorzuschreiben und durch ganz besondere Erziehungsmittel zu erleichtern; sie lehrt auch das zweite und schwierige Erziehungswerk: die so geformten und wohlbehauenen Menschenseelen zu einem harmonischen Bauwerk zusammenzufügen, einem Dom, eine heilige Pyramide aus ihnen zu errichten.
Der bekannte Dichter Wilhelm Müller, der ein eifriger Freimaurer war, hat einmal ein Lied zur Einweihung einer neuen Loge gedichtet, in welchem die Verse vorkommen:
Wir bauen nicht auf Erdengrunde
Ein Werk aus Mörtel, Sand und Stein:
In unsres eignen Busens Runde
Soll unseres Tempels Stätte sein.
Wir bauen in uns fort und fort
Der Menschheit Bau mit Tat und Wort.
Eines der schwierigsten Probleme der modernen Erziehungskunst, das zugleich auch die Staatskunst und die gesamte Kultur aufs innigste berührt, ist das Verhältnis des Individualismus zum Sozialismus, das heißt die Frage, wie sich das Ideal &r möglichst vollkommenen Ausbildung und möglichst ungehinderten Auswirkung jedes einzelnen Menschen mit dem Ideal des harmonischen Zusammenwirkens aller verträgt. Jedes Zusammenwirken verlangt Einordnung und Unterordnung, verlangt Opfer und Entsagung. Die Neuerer, die kühnen Führer zur Befreiung und Verschönerung des Lebens waren meist Individualisten; sie haben die Persönlichkeit als „höchstes Glück der Erdenkinder" gepriesen und haben die alten Bindungen des Lebens: die Familie, das feste Staatsgefüge, die kirchliche Gemeinschaft bewußt oder unbewußt, gelockert.
Viele von ihnen haben als ganz isolierte Geister gelebt und sich an keine Gruppe, an keine Gemeinschaft anschließen wollen. Am schroffsten ist dieser individualistische Zug wohl bei Friedrich Nietzsche zum Ausdruck gekommen; aber andere Denker, Dichter und Propheten des letzten halben Jahrhunderts haben im Grunde ähnlich gedacht wie er. Und wenn sie auch, durch praktische Erfahrungen belehrt, den Zusammenhalt der Menschen als wünschenswert erkannten und sich dieser oder jener Gesellschaft oder Partei anschlossen, vielleicht selber eine Gesellschaft ins Leben riefen, so waren sie doch meist nicht mit ihrem Herzen dabei.
Der Verstand riet ihnen zur Gemeinschaftsbildung, das Herz riet ihnen zur Persönlichkeitsbildung. Aber auf diese Weise kann niemals eine feste und dauernde Vereinigung zustande kommen. Verbände, die nur auf dem Verstande beruhen, leisten wenig und immer nur auf Spezialgebieten. Solche Verbände sind außerstande, eine erziehliche Wirkung auf die Mitglieder auszuüben und sie als Menschen auf eine höhere Stufe zu heben. Das Menschenmachen und Menschenbilden ist ausschließlich solchen Verbänden vorbehalten, die die Menschen mit den Herzen zusammenführen, sie zu Brüdern machen und die Gegensätze der materiellen Interessen, die Gegensätze der intellektuellen Überzeugungen und was sich sonst zwischen die Menschen drängt, in einer höheren, nur von dem liebenden Gemüt geahnten Einheit auflösen.
Bei den Freimaurern tritt diese, erst in jüngster Zeit wieder neuentdeckte Wahrheit als eine lebendige
Erfahrung, man möchte, sagen, als eine Selbstverständlichkeit in die Erscheinung. Jener einfache
Gedanke, daß der Mensch ein Maurer und zugleich ein Baustein ist, schließt ohne weiteres den
anderen Gedanken in sich, daß der Mensch sich mit anderen Menschen zusammentun muß, ja daß er
ohne die anderen Menschen gar nichts ist und vermag. Einen Tempel bauen und sich in diesen Tempel
hineinbauen ist nicht eine Aufgabe für Einsiedler und Anarchisten. Zu diesem Werk bedarf der
Mensch der helfenden Hand der Freunde, die sich gegenseitig aufrichten, gegenseitig ihre Ecken und
Kanten abschleifen und das Beste, was in jedem steckt, herausholen. Alle Bauarbeit ist gemeinsame
Arbeit. So sieht man, wie der Gedanke der Verbrüderung bei den Freimaurern mit dem Gedanken der
Arbeit unlöslich verkettet ist.
Indem das neue Mitglied in den Bund aufgenommen und zum Bruder gemacht wird, wird es zugleich als Maurer an die Arbeit gestellt und auf das Grundgebot humanistischer Erziehungskunst, auf das "Erkenne dich selbst!" hingewiesen, aus dem das "Beherrsche dich selbst" und das "Veredle dich selbst!" als notwendige Konsequenzen sich ergeben.
Wir kommen hier noch einmal auf die Begriffe Volk, Rasse, Menschheit zurück. Wie lassen sich die Verpflichtungen gegenüber den Bundesbrüdern mit den Pflichten gegen das Vaterland und diese wiederum mit der allgemeinen Menschenliebe und endlich mit dem religiösen Verhältnis zu Gott vereinbaren? Wer sich von dem Gefühl durchdringen läßt, daß er ein Arbeiter, ein Maurer, ein Steinmetz ist, der an dem Bau eines großen Menschentempels, ja eines kosmischen Tempels mitwirken soll, der sieht zunächst einmal ganz instinktiv ein, daß die Arbeit für die Nächsten und mit den Nächsten die dringendste ist, Das Vaterland vernachlässigen, um für die Menschheit zu wirken, erscheint ihm ebenso töricht wie das Aufrichten des Dachstuhls vor Aufmauerung der Säulen oder das Einsetzen bunter Fenster vor Befestigung der Grundmauern. Das alte Sprichwort, daß das Hemd uns näher ist als der Rock, ist dem wahren Freimaurer in Fleisch und Blut übergegangen.
Er braucht es sich nicht erst mit Gründen beweisen zu lassen, Daher sind die Freimaurer, wie jeder Kenner bezeugen kann, treffliche Familienväter und ausgezeichnete Freunde. Sie wurzeln aber auch fest im vaterländischen Boden und fühlen sich mit dem Wohl und Wehe ihrer Heimat unlöslich verbunden. Wie jede Pflanzenart und Tierart auf Erden ihre Varietäten, ihre Unterarten hat, so zerfällt auch die Menschheit in Varietäten, in Rassen, Kulturkreise, Völker. Und daß das so ist, ist ein Segen. Mannigfaltigkeit ist die Vorbedingung kräftigen Lebens und Wachsens. Da das Schicksal uns zu Deutschen gemacht hat, ist es nicht nur unser Recht, sondern unsere Pflicht, in der großen Fülle menschlicher Varietäten unsere deutsche Varietät zu bewahren und unser deutsches Wesen klar zum Ausdruck zu bringen, Man kann vergleichsweise sagen, daß die Rassen und Völker einen gewaltigen Chor von Sängern oder Musikinstrumenten bilden.
In diesem Chor hat jede Rasse, jedes Volk seinen
eigenen Melodiegang durchzuführen. Wenn es allzusehr auf die anderen Stimmen horcht, ihnen sich
angleichen, sie nachahmen und wiederholen will, dient es nicht der allgemeinen Menschheitssache,
sondern trägt zur Verarmung und Verkleinerung der Menschheit bei. Es stört die große Symphonie.
Die Mahnung zur Einheit und Gleichheit der Völker wird von dem, an den sie ergeht leicht dahin
mißverstanden, daß er seine Eigenart preisgeben und ganz mit dem anderen gehen soll. Das muß
seinen Widerstand herausfordern, falls noch Kraft und Leben in ihm ist. Daher sollte man bei der
Mahnung zur Völkerversöhnung und zur Annäherung der Rassen und Kulturen immer hinzufügen, daß
nicht eine völlige Einerleiheit, nicht ein großer Völker- und Kulturenmischmasch das Ziel dieser
Annäherung sein soll, sondern ein harmonisches Zusammenströmen selbständiger Individualitäten.
Jedes Volk soll sich selber nach Möglichkeit gleich zu werden streben, soll nach dem Dichterwort
"vollendet in sich" zu werden suchen; dann wird sich ganz von selber die Harmonie mit den anderen
ergehen; denn dies Vollendungsstreben - wir haben es oben als Humanität kennengelernt, ruft die
Annäherung an das allen Menschen, allen kosmischen Erscheinungen gemeinsame Ursein und
Urstreben hervor.
Für den Freimaurer werden die Gegensätze des Lebens, die "Trennungen", wie Lessing sagt,
bedeutungslos. Er glaubt an die Einheit der Menschen an die Einheit des Seins; ja er spürt diese
Einheit in allen Nerven; er hört jene "Harmonie der Sphären" ertönen, von der die antiken Philosophen
und Mysterienjünger so geheimnisvoll gesprochen haben.
Aber es fällt ihm nicht ein, die Unterschiede aufheben und die Mannigfaltigkeit des Lebens beseitigen zu wollen. Auch hier bewahrt ihn das Gleichnis der Maurerarbeit vor dem Irrtum. Beim Bauen hat jeder seinen besonderen Platz, und in einem Tempel sind die Bauglieder von sehr verschiedener Gestalt. So muß es auch im Völkerleben, im Verkehr von Mensch zu Mensch, in allen Erscheinungen der Natur sein und bleiben. Eine völlige Gleichartigkeit wäre das Ende jeglichen Lebens. Wie wir uns darüber freuen, daß die Bäume und die Vögel verschieden sind, so ist es auch ein Glück, daß die Menschen verschieden sind.
Erhaltung der Volkscharaktere ist ebenso notwendig wie die Gliederung jedes Volkes in sich. Die Freimaurer sind auf Grund ihres Kunstgedankens Gegner der Gleichmacherei, achten und lieben aber einen jeden, der den Tempelbau an seiner Stelle fördert. Daher ist es auch ein Grundgebot des Freimaurertums, daß in dem Bunde Menschen vereinigt sind, die ausgeprägte, Persönlichkeiten sind. Jeder gute Freimaurer freut sich, in der Loge, Menschen zu treffen, die anders denken als er, die andere Berufe, andere Neigungen, andere Fähigkeiten haben als er.
Denn nur so lernt er von ihnen; verliert seine Vorurteile und wird angeregt, seine eigene Natur im freundschaftlichen Austausch mit den anderen Persönlichkeiten zur Geltung und zur klaren Vollendung zu bringen.
Wie arm sind doch die zahllosen Menschen, die immer nur mit Leuten umgehen, die ebenso denken wie sie, die ganz gleiche Meinungen, Erfahrungen und Interessen haben wie sie! Sie ahnen nichts von dem befreienden und beglückenden Reichtum eines brüderlichen Verkehrs, wie er sich in jeder guten Loge zwanglos entfaltet.
Aus der Harmonie der Gegensätze, aus dem freundlich-friedlichen Streben und Gegenstreben der
Menschen und der Naturgegenstände baut sich der Dom des Lebens, baut sich der ganze Kosmos auf.
Siehe auch
- August Horneffer
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