Rezension: Robert A. Minder - VERFOLGT. VERTRIEBEN. ERMORDET

Aus Freimaurer-Wiki

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Auf den Spuren der Wiener Freimaurer ab 1932

In den 1920er und den ganz frühen 1930er Jahren erlebte die österreichische Freimaurerei nach den Zeiten Mozarts ihre zweite Blütezeit. Auch diese war wieder nur sehr kurz. Ab dem Beginn der dreißiger Jahre wurden die österreichischen Logen von der austrofaschistischen Dollfußdiktatur bedrängt, aber immerhin nicht verboten. Doch 1938 kamen die Nazis. Sofort begann der SS-Terror mit Verhaftungen und Verboten. Deutlich mehr als hundert der damals 800 österreichischen Freimaurer wurden in den Jahren danach in Konzentrationslagern ermordet oder sonstwie umgebracht, aber immerhin fast 600 konnten noch rechtzeitig ins Ausland fliehen. Vor allem das Schicksal dieser Emigranten wird im Buch beschrieben.
Eine Rezension von Rudi Rabe.

Das Buch ist im September 2021 im Wiener
Löcker-Verlag erschienen.
Das Buch enthält auch viele Illustrationen: hier das Relief des Wiener Metall- und Steinkünstlers Talos Kedl aus dem Jahr 2015 zum Gedenken an die Verfolgung Wiener Freimaurer durch die Nationalsozialisten. Material: geschweißtes und patiniertes Kupferblech; Maße: 70 mal 70 Zentimeter. Es ist ein Auftragswerk der Forschungsloge Quatuor Coronati der Großloge von Österreich. Das Relief stellt den in der Freimaurersymbolik wichtigen „Tempel der allgemeinen Menschenliebe“ (Tempel der Humanität) dar, den die Nationalsozialisten zerstören wollten. Das ist ihnen weitgehend gelungen. Und doch blieben einige festgefügte Mauersteine übrig: Auf diesen konnten die Freimaurer nach dem Terror wieder aufbauen. Der österreichische Großmeister Georg Semler bei der Enthüllung im Dezember 2014: „Ein wichtiges Symbol gegen das Vergessen, ein Mahnmal für die nachfolgenden Generationen.“ - Dies gilt wohl auch für Robert Minders Buch, das hier beschrieben wird.

Robert A. Minder ist ein österreichischer Freimaurer und Freimaurerpublizist. Eine seiner Stärken ist das Sammeln und Archivieren freimaurerischer Materialien, daher war er auch längere Zeit Großarchivar der Großloge von Österreich. Und darauf baut dieses Buch genau so auf wie die zwei anderen Freimaurerbücher, die Robert Minder schon publiziert hat (siehe unten bei den Wiki-Links).

Das Buch hat 140 Seiten. Auf den ersten 25 findet sich die notwendige historische Hinleitung zum Thema, damit man das folgende verstehen kann, nämlich: Auf mehr als hundert Seiten begibt sich Minder danach an zehn verschiedene Orte rund um den Globus, wohin es österreichische Freimaurer verschlug: Shanghai, Paris, London, Los Angeles, San Francisco, New York, Sidney, Buenos Aires, Palästina und schließlich „verstreut in alle Welt“. Und er beschreibt die Schicksale dieser Brüder, die hier nach oft abenteuerlichen und gefährlichen Fluchtrouten gelandet waren, nicht nur so allgemein, vielmehr zitiert er immer wieder aus Briefen, in welchen diese Männer beschreiben, wie sie sich fühlen und wie es ihnen gegangen ist und geht; und - gerade in so einem Buch auch wichtig - wie sehr sie auch bemüht sind, an ihren Emigrationszielen Kontakt untereinander zu halten, ein Aspekt, der sich durch alle brieflichen Zeugnisse zieht.

Dabei erfährt man als Leser, wie unterschiedlich die Emigranten angekommen sind, wie lange es oft dauerte, bis sie die Füße auf den Boden bekamen und dass die erzwungene Emigration für die allermeisten kein Honiglecken war. Ganz egal was sie daheim schon geleistet hatten, in der neuen Heimat mussten sie wieder ganz von vorne anfangen. Und man erfährt auch, was man sich als Freimaurer in der heutigen Zeit in Kenntnis der Bindekraft der Kette gar nicht so recht vorstellen kann, nämlich dass es oft schwierig war, von den örtlichen Logen in irgend einer Weise freimaurerisch akzeptiert oder gar aufgenommen zu werden. Vielfach hing das wohl damit zusammen, dass die anklopfenden Brüder unter dem emotionalen Druck des Kriegs als „Enemy Aliens“ (ausländische Feinde) gesehen wurden; in England wurden daher viele sogar interniert.

Das Herzstück des Buchs

Diese Briefe sind als authentische Zeugnisse das Herzstück des Buches. Sie machen es lebendig, man spürt das schwierige Leben der Emigranten, aber auch ihr Fortkommen im Laufe der Jahre. Als ein Beispiel von vielen übernehme ich aus dem Buch die Auszüge aus einem Brief, den der bis 1938 erfolgreiche Wiener Anwalt Arthur Loewe 1949, also nach dem Krieg, aus San Francisco an seiner Wiener Loge „Zukunft“ sandte:

„(...) Ich muss zwar zugeben, dass mein bisheriges Stillschweigen einen Schluss auf mangelndes Interesse zuließe; der Grund aber liegt einzig und allein darin, dass die Schwere des Alltags und die Sorge um die Befriedigung seiner Bedürfnisse in Verbindung mit allen anderen Obliegenheiten, denen man nicht entgehen kann, kaum Zeit lässt. (...) Allerdings gibt es auch eine ungleich größere Menge von Möglichkeiten dadurch bedingt, dass niemand danach fragt, was man macht und sogenannte Standesrücksichten so gut wie ausgeschaltet sind (...) Vielleicht mag mein eigener Werdegang ein ganz kleines Beispiel dafür geben für die Zeit seit meiner Einwanderung: Houseman (eine Art Hausknecht), Butler (eine Art Kammerdiener), Metallarbeiter während des Krieges in einer Schiffswerft, Buchhalter bei der Stadt (eine Position, die ich nur wegen des Amtsarztes nicht definitiv gestalten konnte), Inhaber eines kleinen Restaurants. Und derzeit bin ich öffentlicher Notar, Steuerexperte und nach erfolgreich abgelegter Prüfung Versicherungsbroker. Was morgen sein wird, weiß ich nicht. Jedenfalls möchte ich in meinem Alter in dem Hafen, in den ich erst vor kurzem gelandet bin, bleiben können. Nimmt man dazu noch die oben erwähnten ‚anderen Obliegenheiten‘ d.i. der Teil der häuslichen Arbeiten, die hier jedes Familienmitglied auf sich nehmen muss, so ist der Tag und man selbst erschöpft. Man sehnt sich nach Ruhe und es bleibt wenig Zeit zur Zerstreuung. (...) Da gibt es allerdings einen Lichtblick: die ziemlich regelmäßig allmonatlich stattfindenden Zusammenkünfte unseres Kränzchens, das sich aus einigen Brüdern der Loge Kosmos, vereinzelten Brüdern anderer Wiener, czechischer und auch reichsdeutscher Logen zusammensetzt und wirklich eine Quelle reiner Freude ist. Es werden Vorträge gehalten und da IST nun der Beweis unseres besonderen Interesses an Euren Berichten. (...) Beide wurden mit großem Interesse angehört und es hat sich eine lebhafte Diskussion daran geknüpft. (…)“

Nach jeder der zehn Destinationen platziert Robert Minder eine alphabetische Liste jener österreichischen Freimaurer, die hier gelandet waren. Praktisch ordnet er damit die Vertriebenenliste neu, die das Freimaurer-Wiki vor ein paar Jahren mit seiner Hilfe veröffentlichen konnte - hier - wobei Minder in seinem Buch jeden Namen mit weiteren auf die Person bezogenen Informationen anreichert.

Doch was ist mit den mehr als hundert österreichischen Freimaurern, die in Unterschätzung der Ereignisse 1938 nicht geflohen waren oder nach Kriegsbeginn nicht mehr fliehen konnten und die daher - weil sie Juden waren oder politische Gegner - von den Nazis auf welche Weise auch immer umgebracht wurden? Auch auf sie vergisst Robert Minder nicht. Als Abrundung seiner masonischen Weltreise widmet er ihnen am Ende des Buches den "Tyler’s Toast", also jene rituellen Worte, mit denen die Freimaurer bei besonderen Anlässen ihrer verstorbenen Brüder gedenken. Und danach folgt genau so wie bei den emigrierten Freimaurern die Liste dieser besonders Unglücklichen.

Die Nazizeit kostete viele Millionen menschlicher Opfer: durch den Krieg an den Fronten und daheim, in den Konzentrationslagern aus sogenannten rassischen oder anderen Gründen, in Kriegsgefangenenlagern durch verhungern Lassen, und so weiter. Daher ist es gut und verhältnismäßig, mit welchen Worten Robert A. Minder sein Werk beginnt:

„Dieses Buch will keineswegs die Freimaurer als besondere Opfer der Verfolgung durch den Nationalsozialismus darstellen, es möchte am Beispiel vieler Mitglieder der Großloge von Wien zeigen, wie Menschen, die ihre Heimat, ihr Vaterland, verloren haben, alles aufgeben, ganz von vorne wieder ein neues Leben gestalten mussten, versucht haben, wenigstens in ihrer kleinen zweiten Heimat, der Freimaurerei, weiter Halt und Stärke zu finden.“

Siehe auch

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