Traktat: Hans-Hermann Höhmann - Auf der Flucht. Was uns das angeht.

Aus Freimaurer-Wiki
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2015: "Die Flüchtlingsproblematik und der Weltbund der Humanität"

Herbst 2015: Die Flüchtlinge gehen und fahren in langen Kolonnen durch die Balkanstaaten, die sie ihren Wünschen folgend nach Norden weiterleiten. Die EU-Abkommen über die Aufteilung von Asylbewerbern funktionieren nicht mehr.
Foto: 'Slovenska vojska', ein Organ der Republik Slowenien.
Die Zivilgesellschaft hilft im Kleinen und im Großen:
hier mit einem Benefizkonzert in Brunsbüttel nördlich von Hamburg, initiiert und mitorganisiert von Bruder Jens Rusch. Der Erlös von ca. 20 000 Euro dient der Unterstützung bereits existierender, aber völlig überlasteter Organisationen für Flüchtlinge, die sich im Integrationsprozess befinden.
http://www.afuamvd.de/erfolgreiches-benefizkonzert-in-brunsbuettel/ = Newsletter AF&AM

Dies ist eine Zeichnung Ende Oktober 2015 von Professor Hans-Hermann Höhmann, dem Redner der Großloge AFuAM von Deutschland, zur Festarbeit anlässlich des 180. Stiftungsfestes der Freimaurerloge ‚Furchtlos und Treu’ in Stuttgart. Bruder Höhmann wählte das Thema auf ausdrücklichen Wunsch der einladenden Loge.

Das Freimaurer-Wiki ist auf Dauer angelegt. Damit die Zeichnung auch später richtig verstanden werden kann, skizzieren wir von der Wiki-Redaktion in wenigen Sätzen zuerst den Ereignishintergrund, vor dem Bruder Höhmann gesprochen hat.

Es geht um die Flüchtlingskrise, die im Herbst 2015 ganz Deutschland aber auch andere europäische Länder erfasst hat und die Menschen in Atem hält: Hunderttausende Flüchtlinge strömen von der Türkei über den Balkan nach Europa und verlangen hier Asyl. Sie kommen aus Syrien und dem Irak, aus Afghanistan und Pakistan, aber auch aus Eritrea, Somalia, Nigeria und anderen westafrikanischen Regionen. Deutschland ist das wichtigste Zielland: Bis Ende des Jahres wird es eine Million Asylwerber aufgenommen haben. Doch auch Länder wie Schweden oder Österreich werden zu Immigrationszielen von Menschen aus ganz anderen Kulturen.

Ab Anfang September passieren täglich tausende, manchmal sogar Zehntausend und mehr die Grenzen. Kontrollen werden bald nicht mehr möglich. Die zuständigen staatlichen Stellen sind oft überfordert. Zu ihrer Unterstützung engagieren sich in einem beispiellosen und massenhaften Impuls freiwillige Helfer aus der Zivilgesellschaft. Durch Deutschland und Österreich strömt ein Gefühl der herzlichen Solidarität mit den ankommenden Flüchtlingen. Bald machen sich aber auch Ängste bemerkbar: Wohin soll das führen? In Deutschland und Schweden gibt es sogar Brandanschläge auf Flüchtlingsheime. Und die Menschen verlangen von der Politik Antworten, wie es weiter gehen soll. Niemand hat sie, die Zukunft ist ungewiss.

Das Thema verdrängt alles andere auf der politischen Agenda. Jeden Tag dominiert es die Medien. Die Politik wirkt ratlos und zerstritten. Mitte September spricht die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) einen Satz, der wohl in die Geschichte eingehen wird: „Wir können das schaffen, und wir schaffen das". Sie erntet Zustimmung und Ablehnung zugleich. Der Vorwurf der Kritiker lautet, das werde als Einladung verstanden. Die Bevölkerung polarisiert sich immer mehr; ein Riss geht durch das Land. Doch der Flüchtlingsstrom fließt weiter. Die herbstliche Kälte macht die Lage noch dramatischer. Auch wenn die Mehrheit der Immigranten junge Männer sind, rühren die Bilder von Müttern mit kleinen Kindern die Herzen.

So ist die Situation am 25. Oktober 2015, am Tag der Zeichnung Bruder Höhmanns in der Stuttgarter Loge. Weder er noch wir von der Wiki-Redaktion kennen die Zukunft. Niemand weiß, was noch kommen wird, niemand hat Patentrezepte, natürlich auch Hans-Hermann Höhmann nicht. Aber er beherrscht die Kunst der verantwortungsbewussten freimaurerischen Reflexion: die Verbindung von Herz und Verstand. Dies auch in einer Lage, die in ihrer Dramatik längst mit den Ungewissheiten des Jahres 1989 rund um dem Zusammenbruch des kommunistischen Sowjetimperiums verglichen wird. R.R.




Hans-Hermann Höhmann: "Ja, meine Brüder: Es geht uns was an!"

Ich meine, es geht uns gründlich an, als Menschen, als Bürger der ersten gelungenen Demokratie in Deutschland und auch als Brüder Freimaurer.

Denn der Freimaurer befindet sich an der Schnittstelle zwischen Freimaurerei und Gesellschaft. Von der Art und Weise, wie die Freimaurerei heute mit dieser Schnittstelle zwischen Drinnen und Draußen umgeht, hängt die Zukunft des Bundes ab: Wer öffentlich ernst genommen werden will, muss selbst das Öffentliche Ernst nehmen.

Allerdings: eine flächendeckende freimaurerische Antwort auf die mir gestellte Frage gibt es nicht. Denn es handelt sich bei dem, was heutzutage verkürzend gern die Flüchtlingsproblematik genannt wird, um eine sehr komplexe und interdependente Problematik mit vielen Aspekten, es geht um ein schwer zu entwirrendes Knäuel von Flucht, Asyl, Migration und Integration, von Innen-, Europa- und Weltpolitik, von Herausforderungen und Lösungsmöglichkeiten. Und beides: Dimension der Aufgabe und Möglichkeiten, sie zu lösen, sind nicht starr. Die Lösungsmöglichkeiten insbesondere hängen ja sehr von unserer Bereitschaft ab, Lösungsmöglichkeiten ausfindig zu machen und zu nutzen. Wenn wir starr sind und uns verweigern, sind wir mit unserem Latein schnell am Ende.

In Anbetracht all dieser Gesichtspunkte muss sich der Redner der Großloge, selbst wenn er Politikwissenschaftler ist, vor Schnellschüssen und Gemeinplätzen hüten und auch davor, unter die schrecklichen Vereinfacher zu geraten, zumal es von solchen ja schon reichlich viele gibt.

Demokratie ist ein offenes System. Was richtig und möglich ist in der Politik, steht in keiner Weise a priori fest. In der Demokratie ist politisches Denken und Handeln immer perspektivisch, es ist prinzipiell ergebnisoffen, und es ist das Wechselspiel zwischen politischen Gruppen, Interessen und Überzeugungen, von Zielvorstellungen und Sachverstand, in dem um effektive und effiziente Lösungen gerungen wird. Und da gilt zunächst auch hier die von Euch zum Wahlspruch Eurer Loge auserkorene These von Karl Jaspers: „Niemand hat die Wahrheit, wir alle suchen sie.“

Trotzdem will ich Überlegungen darüber anstellen, ob es nicht trotz aller Komplexität der Flüchtlingskrise gemeinsame Überzeugungen der Brüder Freimaurer geben könnte oder sollte, vielleicht gar schon gibt, und ich will mir Gedanken darüber machen, inwieweit dabei spezifisch freimaurerische Denkweisen und Handlungsformen vorstellbar sind.

Als Ausgangspunkte meiner Überlegungen zur Flüchtlingsproblematik wähle ich einige Feststellungen unseres Bundespräsidenten. Beim Festakt zum 25. Jahrestag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2015 in Frankfurt am Main führte Joachim Gauck u. a. folgendes aus:

„Der Empfang der Flüchtlinge im Sommer dieses Jahres war und ist ein starkes Signal gegen Fremdenfeindlichkeit, Ressentiments, Hassreden und Gewalt. Und was mich besonders freut: Es ist ein ganz neues, ganz wunderbares Netzwerk entstanden – zwischen Ehrenamtlichen und Hauptamtlichen, zwischen Zivilgesellschaft und Staat. Es haben sich auch jene engagiert, die selbst einmal fremd in Deutschland waren oder aus Einwandererfamilien stammen. Auf Kommunal-, Landes- wie Bundesebene wurde und wird Außerordentliches geleistet. Darauf kann dieses Land zu Recht stolz sein und sich freuen.
Und dennoch spürt wohl fast jeder, wie sich in diese Freude Sorge einschleicht, wie das menschliche Bedürfnis, Bedrängten zu helfen, von der Angst vor der Größe der Aufgabe begleitet wird. Das ist unser Dilemma: Wir wollen helfen. Unser Herz ist weit. Aber unsere Möglichkeiten sind endlich. Tatsache ist: Wir tun viel, sehr viel, um die augenblickliche Notlage zu überwinden. Aber wir werden weiter darüber diskutieren müssen: Was wird in Zukunft? Wie wollen wir den Zuzug von Flüchtlingen, wie weitere Formen der Einwanderung steuern – nächstes Jahr, in zwei, drei, in zehn Jahren? Wie wollen wir die Integration von Neuankömmlingen in unsere Gesellschaft verbessern?“

Joachim Gauck spricht hier einen grundlegenden Widerspruch an, ein Dilemma, wie er sagt, dem wir in der Tat nicht entgehen können und das es zu reflektieren gilt: Die Werte, die unserer politischen Ordnung zugrunde liegen, die politische Kultur des Grundgesetzes mit dem Recht auf Asyl als explizitem Bestandteil, die Rückkehr Deutschlands in die Gemeinschaft freier Völker nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus, schließlich auch die im Kettenlied der Freimaurer ausgedrückte alte Hoffnung, „dass das menschliche Geschlecht eine Bruderkette werde, stark durch Wahrheit, Licht und Recht“: All das fordert Offenheit und Hilfe für in Not geratene Menschen, wo immer sie sind und woher sie auch kommen, das heißt jetzt vor allem für die Menschen, die aus Verfolgung, Krieg und lebensbedrohender Not nach Deutschland kommen, auch wenn sie nicht nur vorübergehend physische und materielle Sicherheit suchen, sondern bei uns heimisch werden wollen.

Doch ein Zustrom ohne Grenzen begrenzt die Möglichkeiten, die uns für die Lösung der damit verbundenen Probleme zur Verfügung stehen, und der derzeitige Stand des Flüchtlingsproblems verlangt von uns, das notwendige Gleichgewicht zu finden zwischen der Notwendigkeit einer wirksamen Hilfe und besonnenen Integration auf der einen und der Sicherung der erforderlichen Bedingungen für eine stabile, von der breiten Mitte der Gesellschaft getragene Weiterentwicklung der deutschen Demokratie auf der anderen Seite.

Um ein Begriffspaar des großen Soziologen Max Weber aufzugreifen: Gesinnungsethik und Verantwortungsethik müssen auch beim Flüchtlingsproblem zusammenkommen. Gesinnungsethik erfordert Empathie, Offenheit und Hilfe – Verantwortungsethik lässt dabei aber auch nach dem Machbaren und Verkraftbaren, nach dem Vernünftigen fragen.

Von Weber stammt auch der Hinweis, dass es vor allem drei maßgebliche Qualitäten sind, die einen guten Politiker (und eine gute Politik) auszeichnen: Leidenschaft, Verantwortungsgefühl und Augenmaß.

Leidenschaft im Sinne des unermüdlichen Einsatzes für die als richtig erkannte Sache,
Verantwortlichkeit gegenüber dieser Sache und den damit verbundenen Menschen als – so Weber – Leitstern des Handelns und
Augenmaß als unverzichtbare Fähigkeit, vor dem und beim politischen Handeln die Strukturen der Wirklichkeit mit – so wiederum Weber – innerer Sammlung und Ruhe auf sich wirken zu lassen, nicht zuletzt, um dem zu entgehen, was der Autor im gleichen Text mit dem Begriff sterile Aufgeregtheit beschreibt und kritisiert.

Was Weber hier mitteilt, sind nun genau die Eigenschaften, die man sich für den Freimaurer wünscht: Zunächst, den Flüchtlingen praktisch zu helfen, materiell und durch persönlichen Einsatz, furchtlos und treu, ist eine Aufgabe für uns alle. Gewiss, da mag der eine oder andere von uns besorgt fragen: aber sind nicht Betrüger unter denen, die um Hilfe bitten, oder vielleicht gar aktuelle oder potentielle Terroristen? Und sicherlich ist das auch so, und selbstverständlich muss dagegen mit den Mitteln des Rechtsstaats und der öffentlichen Ordnung konsequent vorgegangen werden.

Aber erlaubt dies einen Generalverdacht, mit dem alle überzogen werden?
Muss da nicht genau hingeschaut und gründlich differenziert werden?
Könnte es nicht sein, dass bis an den Rand der Hysterie übertrieben wird, wenn – so hörte ich neulich gar in einer Loge – inzwischen der Selbstmord Deutschlands eingeleitet wurde?

Und was die Flüchtlinge betrifft:
Ist nicht jeder von ihnen zunächst einmal der „bloße Mensch“, von dem Lessing spricht? Lessing, wenn er sein Alter Ego Falk sagen lässt, dass „jede Glückseligkeit des Staates, bei welcher, so wenig einzelne Glieder leiden und leiden müssen, Bemäntelung der Tyrannei ist“, und dass die Natur nicht „die Glückseligkeit eines abgezogenen Begriffs – wie Staat, Vaterland und dergleichen – zur Absicht gehabt hätte, sondern die Glückseligkeit jedes wirklichen einzelnen Wesens“.

Auch hier – wie nicht selten anderswo – hätte der Freimaurer der Versuchung zu widerstehen, seine Wertgrundlagen wie ein Taxi zu verwenden, in das man bei Bedarf ein- und aussteigen kann.

Außer persönlich zu helfen, sollte sich der Freimaurer – einzeln oder gemeinsam mit seinen Brüdern – dem gesellschaftlichen Diskurs stellen, dem Gespräch auch mit den Menschen, die zu uns kommen, über ihre Schicksale, ihre Erwartungen, ihre Potenziale, die Bereicherung, die sie uns mitbringen, aber auch über die Pflichten, die sie in unserer Gesellschaft erwarten.

Auf diese Weise könnten sich die Freimaurer als Übersetzer der politischen Kultur des Grundgesetzes bewähren. Denn hierauf kommt es in der Tat entscheidend an: Alle deutschen Bürger, alle Menschen hierzulande, die die bereits hier leben, die seit eh und je deutsche Bürger sind, aber auch alle, die kommen und zukünftig mit uns leben wollen, müssen den verfassungsmäßigen Rahmen unseres Gemeinwesens anerkennen, nicht nur durch Erklärungen, sondern auch im Handeln.

Gewiss: Wir müssen die Freiheitsräume von Minderheiten schützen, und wir müssen lernen, die Besonderheiten fremder Kulturen zu tolerieren. Denn Kultur bedeutet Heimat, die man auch und gerade in der Fremde braucht, und die ja auch Zugewinn für uns bedeuten.

Doch dies gilt primär für die privaten Bereiche des Gemeinwesens. In den öffentlichen Bereichen dagegen müssen die Regeln des Pluralismus und der Demokratie gelten, in der Politik muss es säkular zugehen, religiöser Glaube muss privat sein, einerlei, um welche Religion es sich handelt, und die politischen Entscheidungen müssen von den Bürgern im Regelspiel der demokratischer Institutionen werden. Sicherlich sind diese Bürger in vielen Fällen gläubige Menschen, aber es muss auf alle Versuche verzichtet werden, politische Richtlinien vom Himmel herunter zu holen, nachdem man sie zuvor nach oben projiziert hat.

Über all das sollten die Freimaurer sprechen, und zwar mit der von Max Weber angemahnten inneren Sammlung und Ruhe. Die von Weber gleichfalls benannte Unkultur der „sterilen Aufgeregtheit“ taugt nicht für den gesellschaftlichen wie den freimaurerischen Diskurs. Pegida-Parolen dürfen nicht in die Loge eindringen, und die Gespräche, die wir führen, sollten nicht den Fremdenhass und die Oberflächlichkeit der Internetforen und der Stammtische bei uns heimisch werden lassen.

Wir haben uns vielmehr in unserer Arbeit und bei den Diskursen unter uns und mit unseren Partnern in der Zivilgesellschaft an Prinzipien auszurichten, die zu den besten Traditionen unseres Bundes gehören und in denen wir Freimaurer sicher übereinstimmen: Menschenwürde, Demokratie, Toleranz, soziale Gerechtigkeit, Friede unter den Menschen und mit der Natur sowie die Bereitschaft, beim politischen Handeln vernünftigen und rationalen Lösungen den Vorrang einzuräumen gegenüber Vorurteilen und Ideologien.

Solche Orientierungen an europäischen Werten, Werten der Aufklärung zumeist, sind nicht dogmatisch, aber auch nicht beliebig. Sie repräsentieren vielmehr den erforderlichen Konsensrahmen für eine politische und gesellschaftliche Leitkultur, ohne die ethisch verantwortliches Handeln unter den komplexen Bedingungen der Welt von heute und morgen nicht möglich ist und bei deren Fehlen die Gesellschaft auseinander zu fallen droht.

Versuchen wir zu bilanzieren: Die Flüchtlingsströme werden so schnell kein Ende finden. Die Reaktion darauf aber darf nicht aus Hilflosigkeit, Hass und Gewalt bestehen. Hass, der inzwischen ja zum mörderischen Hass geworden ist, wenn wir den Mordanschlag bedenken, dem die zukünftige Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker am vergangenen Samstag zum Opfer gefallen ist, und der einen fremdenfeindlichen und rechtsradikalen Hintergrund hatte.

Doch wenn wir uns nicht über unsere Werte verständigen und ebenso gründlich wie aufrichtig prüfen, was uns erwartet, wozu wir verpflichtet sind, was wir leisten können und wo unsere Grenzen liegen, wenn wir nicht umsteuern und vor Ort wie global Solidarität praktizieren, werden Ängste, Hass und Feindseligkeit bei uns wie anderswo zunehmen, so sehr vielleicht, dass wir sie nicht mehr kontrollieren können.

Über das Flüchtlingsproblem hinaus reflektiert werden müssen deshalb auch Zustand und Entwicklungstendenzen unserer deutschen Gesellschaft. Zu Recht hat die Politikwissenschaftlerin Gesine Schwan kürzlich in einem Beitrag für die Wochenzeitung DIE ZEIT davon gesprochen, dass Gesellschaften mit einer breiten Mittelschicht und ohne große soziale Diskrepanzen an und für sich durchaus in der Lage sind, günstige soziale Voraussetzungen für Demokratie und für eine freiheitliche, gemäßigte Politik zu schaffen.

Wenn aber – so führt Schwan dann weiter aus – (ich zitiere)

„wenn aber die Diskrepanzen zwischen Arm und Reich immer größer werden und die Mittelschicht Angst bekommt, zwischen Reich und Arm zerrieben zu werden, wenn auch den einzelnen Menschen jederzeit Prekariat und sozialer Abstieg drohen, dann sucht sich diese mit Ohnmacht gepaarte Angst eben als Blitzableiter jene Menschen, an denen sie ohne Gefahr ihre Wut abreagieren kann.“

Und Gesine Schwan folgert:

„Wir müssen auf allen Ebenen politisch und zivilgesellschaftlich handeln: vor Ort gegen soziale Isolierung und aggressive Vorurteilsbereitschaft, im Staat gegen die schamlose Durchsetzung von Partikularinteressen gerade derer, die gar nicht mehr wissen, wohin mit ihrem Geld, in Europa gegen ein verachtendes Desinteresse an den ärmeren Staaten, in denen ebenfalls viele Reiche leben, und zugleich global, weil die gegenseitige Interdependenz einen ganzheitlichen Ansatz der Umkehr erfordert.“

Nicht zuletzt wir Freimaurer sollten angesichts historischer Erfahrungen aus der Zeit von Weimarer Republik und Nazi-Diktatur und nicht zuletzt vor dem Hintergrund massiver eigener völkischer Verirrungen in den 1920er und frühen 1930er Jahren die Bedrohlichkeit und das mörderische Potenzial von Vorurteilen und aggressiven Ressentiments zur Kenntnis nehmen und uns damit auseinandersetzen.

Nein, meine Brüder, die Welt wird auf absehbare Zeit nicht bequemer. Ja, meine Brüder, Turbulenzen und Verwerfungen aller Art werden uns begleiten, national und international.

Auch für uns Freimaurer wird es weder angenehmer noch bequemer, sofern wir uns unseren Werten verpflichtet fühlen und uns nicht hinter die Mauern zurückziehen, die die Welt von unseren Tempeln trennen, zurückziehen in die Verantwortungslosigkeit und vielleicht gar noch unser Gewissen mit der Vorstellung beruhigen, dass das Politische doch tabu sei für uns.

Als der Großmeister der Vereinigten Großlogen von Deutschland kürzlich zum Flüchtlingsproblem Stellung nehmen wollte, wurde er aus dem Kreise seiner Großmeisterkollegen ausgebremst.

Ein humanitärer Bund aber darf den Kopf nicht in den Sand stecken. Und seine Repräsentanten sollten auch im Kontext der europäischen Freimaurerei ausloten, wo es Möglichkeiten gibt, dem Flüchtlingsproblem, das ja weit über den deutschen Rahmen hinausgeht und ein europäisches Problem ist, entgegenzuwirken. Handeln statt repräsentieren, darauf käme es auf der europäischen Freimaurer-Ebene an.

Humanismus hat keine nationalen, er hat europäische Wurzeln, und er begründet verpflichtende Traditionen. Es sollte keine rhetorische Leerformel sein, wenn es auf der Internet-Homepage der Großloge AFuAM von Deutschland heißt:

„Die Großloge der Alten Freien und Angenommenen Maurer von Deutschland steht in der Tradition des Humanismus und der Aufklärung“,

und wenn auch die Verfassung unserer Großloge ganz eindeutig darauf hinweist, welche ethischen Maßstäbe den Freimaurern innerhalb und außerhalb der Loge vorgegeben sind:

„In Achtung vor der Würde jedes Menschen treten (die Freimaurer) ein für die freie Entfaltung der Persönlichkeit und für Brüderlichkeit, Toleranz und Hilfsbereitschaft und für Erziehung hierzu.“

Es geschehe also!

Siehe auch