Traktat: Hans-Hermann Höhmann - Wieder einmal Lessing. Auf den Spuren eines modernen Denkers

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Hans-Hermann Höhmann bei einem Vortrag 2017.

Hans-Hermann Höhmann:
Wieder einmal Lessing - Auf den Spuren eines modernen Denkers

Vortrag auf der 52. Arbeitstagung der Forschungsloge „Quatuor Coronati“ am 14. und 15. Oktober 2017 im Logenhaus Lemförderstraße, Hannover; Hans-Hermann Höhmann ist Redner der Großloge AF&AM von Deutschland

„Nichts geht über das laut denken mit einem Freunde“
Gotthold Ephraim Lessing, Ernst und Falk

Zukunft braucht Herkunft

Warum interessieren uns die „klassischen“ Autoren der Freimaurerei? Kommt es daher, dass uns Freimaurern von heute nichts mehr einfällt? Suchen wir den Trost der vergangenen Hoffnung, der von ihnen ausgeht? Benutzen wir sie je nach Standpunkt argumentativ im Streit der freimaurerischen Lehrarten? Oder sind sie für uns inhaltlich wichtig, durch die Konzeptionen, für die sie stehen, durch ihre spezifischen Sichtweisen von Freimaurerei, wegen der „wahren Ontologien“ des Bundes, an denen sie sich abgearbeitet haben, oder auch durch ihr methodisches Vorgehen, durch die Art und Weise der „Annäherung an Freimaurerei“, die wir bei ihnen vorfinden?

Sicher ist von allem etwas dabei, und gleichermaßen ist eines gewiss: Die Tradition des Humanismus und der Aufklärung ist – vom Standpunkt der Freimaurerei aus betrachtet – nun einmal die Tradition der Lessing und der Herder und der Wieland und der Fichte (1). Und wir brauchen diese Tradition! Insbesondere der kürzlich verstorbene Giessener Philosoph Odo Marquardt hat immer wieder überzeugend dargelegt, dass „Herkunft“ erforderlich ist, wenn Gegenwart und Zukunft gelingen sollen. Seine Argumente: Wir Menschen sind „zeitknapp“. Die Kürze unserer Existenz hindert uns daran, jeweils neue Komplettausstattungen unserer Lebenswelten zu schaffen. Menschen vertragen nicht zu viel Innovation, und unsere Veränderungen müssen getragen werden durch unsere Nichtveränderungen: „Neues ist nicht möglich ohne viel Altes; Zukunft braucht Herkunft“ (2).

Allerdings müssen wir fragen, welche „Herkünfte“ als Grundlagen für die Gestaltung der Zukunft taugen, und da meine ich, dass unter „unseren“ Klassikern kaum einer im Hinblick auf Inhalte und Methoden so wichtig, so anregend, so ergiebig für uns Freimaurer von heute ist wie Gotthold Ephraim Lessing: Einerseits bietet uns Lessing immer wieder inspirierende Themen für eigene Variationen, andererseits lehrt uns der Umgang mit ihm durch die knapp zweieinhalb Jahrhunderte masonischer Lessing-Rezeption hindurch, wie man mit den Leuchttürmen der Vergangenheit besser nicht umgehen sollte.

Ressourcen der Freimaurerei und Notwendigkeit historischer Reflexion

Doch machen wir zunächst einen Umweg und fragen wir, worin eigentlich die Ressourcen der Freimaurerei bestehen, wenn diese am Markt der sozialen Einbindung tätig werden und erfolgreich seien will?

Drei wesentliche Faktoren auf der Seite unseres Bundes sind – so meine ich – zu benennen, wenn wir erklären wollen, was Menschen zur Freimaurerei bringt:

  • Geistige Lebendigkeit und intellektuelles Niveau
  • Mitmenschliche Empathie und soziale Offenheit sowie
  • Überzeugende Inhalte in konzeptioneller, ritueller und strukturell-organisatorischer Hinsicht.

Die ersten beiden Faktoren verstehen sich von selbst. Sie sind unverzichtbare, wenn auch oft defizitäre Kernelemente der freimaurerischen Praxis. Wenn wir nach dem dritten Faktor, nach den Inhalten fragen, wenn wir mit Lessing wissen wollen „was und warum die Freimaurerei ist“, dann antworten wir gern mit Hinweisen auf Humanismus und Aufklärung, und die Bekenntnisse dazu gehen uns locker über die Lippen. Doch ein eigentlicher „Humanismus- und Aufklärungsdiskurs“ ist innerhalb der deutschen Freimaurerei der Gegenwart kaum zu entdecken. Die Beschäftigung mit beidem – mit H & A, so kürze ich sie einmal ab, – ist außerhalb unseres Bundes, in der profanen intellektuellen Landschaft der Gesellschaft, viel inhaltsreicher und lebendiger als bei uns. Insbesondere zur Frage, was H & A heute bedeuten, sind wir oft allzu wortkarg. Auch wenn man uns fragt, was denn unsere Quellen sind für einen im hier und heute plausiblen Humanismus und für eine auf stimmige Weise reflektierte Aufklärung, geraten wir nicht selten in Verlegenheit.

Wir müssen also fleißig sein, wenn wir bewusst und nach innen und außen auskunftsfähig in der Tradition von Humanismus und Aufklärung stehen wollen. Und dies bedeutet vor allem, das Denken des 18. Jahrhunderts zu erfassen und produktiv neu zu denken. Denn so wichtig die Verständigung über die Realitäten von heute im Diskurs der Freimaurer über ihre Konzepte ist, die notwendige Tiefe gewinnt diese Diskurse doch nur dann, wenn sie sich mit Erinnerungskultur und historischer Reflexion verbindet, denn noch einmal: Zukunft braucht Herkunft.

Die europäischen Bürgerkriege des 19. und 20. Jahrhunderts haben dem Europa der Aufklärung im Sinne einer den europäischen Eliten gemeinsamen Lebens- und Denkweise ein Ende gesetzt. An diese gemeinsame Lebens- und Denkweise hätten die heutigen Eliten Europas – und darunter auch die Freimaurer – wieder anzuknüpfen. Um aber an gemeinsame Vergangenheiten anknüpfen zu können, müssen die Europäer der Gegenwart – so hat es der in Harvard lehrende amerikanische Historiker Robert Darnton einmal formuliert – „einen Salto rückwärts über das 19. und 20. Jahrhundert springen und sich von neuem mit der europäischen Dimension des Lebens im Zeitalter der Aufklärung auseinandersetzen“ (3).

Nicht, dass irgendwer das 18. Jahrhundert wieder aufleben lassen wollte – lebte damals doch die große Mehrheit der Europäer im Elend und war doch die Aufklärung selbst eine komplexe Bewegung voller Widersprüche und Gegenströmungen – Stichwort „Dialektik der Aufklärung“. Doch die Aufklärung ist nun einmal der Ursprung der freiheitlich-demokratischen Werte, die heute das Herzstück unserer Gesellschaft ausmachen und das in einer Form, die eine wirkliche, zukunftsträchtige Alternative zum Nationalismus, zum völkischen Denken und zum Fundamentalismus ermöglicht. Und wenn wir „neu Denken“ und „Aufklärung“ im 18. Jahrhundert sagen, dann sind wir bei Gotthold Ephraim Lessing.

Lessings Freimaurer-Schriften

Drei Arbeiten Lessings sind für die Freimaurerei von besonderer Bedeutung:

  • Nathan der Weise“, als dramatische Erzählung von Menschlichkeit, religiöser Toleranz, Relativität des Glaubens und Bindungskraft der Freundschaft,
  • die „Erziehung des Menschengeschlechts“ als Quintessenz von Lessings religionskritischem Denken, als analytisches Bekenntnis zur Wandelbarkeit des Religiösen im Prozess der Geschichte und
  • Ernst und Falk. Gespräche für Freymäurer“ als Begründung der „Wesenheit Freimaurerei“ und als Verortung ihres Geheimnisses in den „wahren Taten“ der Freimaurer.

Im „Nathan“, vor allem aber in der „Erziehung des Menschengeschlechts“ geht es Lessing um die Perspektive einer vernünftig-moralischen Autonomie des Menschen als dem gesetzmäßigen Resultat seiner Entwicklung (4): Als schließlich hervortretende Wahrheit Gottes erscheint die Natur. An die Stelle göttlichen Handelns tritt das Tun der Menschen. Den Platz der Erlösung nimmt die zukünftige Gestaltung des Diesseits ein. An die Stelle chiliastischer Erwartung tritt ein gesetzmäßiger Prozess, in dem sich Tun und Erkennen der Menschen entwickeln und sich ihre Kräfte entfalten, um Gutes zu bewirken.

Die „Erziehung des Menschengeschlechts” markiert den Transformationsprozess von Theologie in Philosophie, in die Philosophie der bürgerlichen Gesellschaft. Die theoretische Begründung menschlicher Selbstbestimmung ist die Quintessenz des religionskritischen Denkens Lessings (5).

Behandelt Lessings „Erziehung des Menschengeschlechts” die moralisch-geistige Bildung der Menschheit in ihrem Fortschreiten von Stufe zu Stufe, so beinhalten die zur gleichen Zeit entstandenen „Freimaurergespräche” die Begründung und Beschreibung der wahren Taten der Freimaurer, die erforderlich sind, um die Glückseligkeit jedes einzelnen Individuums in der bürgerlichen Gesellschaft zu verwirklichen (6). Denn, so heißt es scharf anti-ideologisch pointierend in Lessings Text, die Natur habe nicht „die Glückselig¬keit eines abgezogenen Begriffs – wie Staat, Vaterland und der¬gleichen zur Absicht gehabt, sondern die Glückseligkeit je¬des wirklichen einzelnen Wesens“.

Lessings Freimaurergespräche Ernst und Falk sind für jeden nachdenklichen Freimaurer von bleibender Faszination (7). Nicht allein die geschichtliche, die aktuelle Bedeutung der Schrift gilt es zu entdecken, wenn nach konzeptioneller Orientierung für die Logen- und Großlogenpraxis der Gegenwart gesucht wird. Gewiss: Lessings Schrift ist nicht als direkt anwendbarer analytischer Kommentar zur gesellschaftlichen Gegenwart zu lesen. Sie steht im Kontext des späten 18. Jahrhunderts und muss primär als Beitrag zum staatsphilosophischen Diskurs der Spätaufklärung verstanden werden. Doch ist der Text erstaunlich aktuell geblieben und zwar sowohl wegen seines analytischen Gehalts in inhaltlicher und methodischer Hinsicht als auch wegen seiner Qualität als brillante Themenvorgabe für das eigene gegenwartsbezogene Weiterdenken.

Lessing-Perzeption im Kontext der Freimaurerei ist als solche allerdings weder neu noch originell. Immer wieder wurde versucht, Lessing im Allgemeinen und Ernst und Falk im Besonderen für jeweils konkrete freimaurerische Begründungsbedürfnisse zu nutzen. Aus der Schrift in Vorträgen, Tempelzeichnungen und Artikeln zustimmend oder kritisch zu zitieren, war innerhalb der deutschen Freimaurerei insbesondere im langen 19. Jahrhundert weit verbreitet. Gesamtsicht und Dialektik des Ansatzes wurden freilich dabei oft verfehlt, und von Lessings geschlossenem Entwurf blieb meistens nur ein Steinbruch für Zitate übrig. Insbesondere wurde – dem Zeitgeist folgend – die Bedeutung Lessings als eines gesellschaftspolitischen Denkers von hohem Rang fast regelmäßig übersehen.

Häufig wurde Lessing zur Galionsfigur im masonischen Richtungsstreit. Während die liberal-humanitäre Richtung Lessing mit pseudoreligiösen Weihen umgab und ihn als Fahnenträger an die Spitze ihrer jeweiligen tages- und logenpolitischen Forderungen stellte, lehnten altpreußisch-christlich orientierte Autoren Lessings vermeintlichen Rationalismus ab und zogen sich ihm gegenüber in ein emotionales, christlich-mystisches Erlebnis von Freimaurerei zurück.

Als die extremen Exponenten der Verherrlichung und der Verdammung Lessings können Joseph Gabriel Findel und Ferdinand Runkel genannt werden (8). Für Findel ist Lessing der „Wegweiser der Nation“, der „Bannerträger des Lichts“, „der Luther der Aufklärung“, der Führer, der „die deutsche Freimaurerei auf den Boden der alten und unverfälschten Maurerei zurückbringt“.

Die entgegen gesetzte Extremposition vertritt Ferdinand Runkel, der in seiner „Geschichte der Freimaurerei in Deutschland“ von 1932 feststellt, dass es für Lessing als dem „Kritiker" und „Rationalisten“ schlechterdings unmöglich sei, das Wesen der Freimaurerei zu erkennen. Lessings Gedanken seien „sehr überschätzt worden", der Dichter spräche von der Freimaurerei „wie der Blinde von der Farbe“ und „das innere Wesen der Kunst, das Mysterium (sei ihm) nicht aufgegangen. Jeder Freimaurer, der im Christentum die höchste Form des religiösen Mysteriums erlebt hat, (müsse) Lessing als Freimaurer ablehnen.“

Doch verlassen wir den Streit um Lessing und versuchen wir, dem ungebrochenen intellektuellen Anregungspotenzial nachzugehen, das von Lessing ausgeht.

Ungebrochenes intellektuelles Anregungspotenzial

Lessing auf dem Judenplatz in Wien ...
... und derselbe Lessing noch einmal.
Foto: laurencehorton - flickr.com creative commons

Die Entwicklung der Moderne seit der Aufklärung hat große Errungenschaften gebracht. Sie hat in ihrer Dialektik aber auch zu Strukturen, Verhaltensweisen, Abläufen und Denkgewohnheiten beigetragen, die die humanitäre Substanz der Gesellschaft bedrohen und gefährliche Spaltungen aufreißen lassen:

Ich kann im heutigen Kontext nur Stichworte dazu nennen: Kriege alten Typs zwischen Staaten und neuen Typs innerhalb von Gesellschaften; Fundalismen und terroristische Gewalttaten; Animositäten zwischen den Vertretern verschiedener Ethnien und Kulturen; Disharmonien zwischen den Menschen und ihren natürlichen Lebensgrundlagen; innerpersonale Trennungen und Entfremdungen des Menschen: Verlust eines stabilen menschlichen „Selbst“.

Soll nun die Gesellschaft – national wie international – eine Zukunftsperspektive haben, so bedürfen alle diese Trennungen der Überwindung. Überwinden von Trennungen aber ist nichts anderes als das große Thema Lessings. Lessings humanistischer Ausgangspunkt – und damit zentraler Angelpunkt seiner allgemeinen wie freimaurerischen Anthropologie – ist, ich habe bereits darauf hingewiesen, die Glückseligkeit jedes einzelnen Menschen. Staat und bürgerliche Gesellschaft sind für die Menschen geschaffen, damit „in dieser Vereinigung jeder einzelne von ihnen seinen Teil von Glückseligkeit desto besser und sicherer genießen kann.“ Überindividuelle, kollektivistisch-ideologische Staatszwecke lehnt Lessing ab: „Jede andere Glückseligkeit des Staates“ – so heißt es weiter –, „bei welcher auch noch so wenig einzelne Glieder leiden und leiden müssen, ist Bemäntelung der Tyrannei. Anderes nicht!“

Aber Staat und bürgerliche Gesellschaft können – so Lessing weiter – nur vereinigen, indem sie die Menschen zugleich trennen. Auch die beste Staatsverfassung kann nicht die Existenz mehrerer Staaten verhindern, denn ein universeller Weltstaat wäre aufgrund seiner ungeheuren Dimension zu keiner Verwaltung fähig. Mehrere Staaten aber hätten unterschiedliche Interessen, Gewohnheiten und Sitten, folglich unterschiedliche Sittenlehren und deshalb wiederum verschiedene Religionen.

Aber nicht nur in verschiedene Völker und Religionen teile und trenne die bürgerliche Gesellschaft, nein, in Form der unterschiedlichen Stände setze sie ihre Trennungen gleichsam bis ins Unendliche fort. Diese Trennungen sind in Lessings Sicht „schrecklich“, aus ihnen folgt das Übel der Welt, und dennoch sind sie – dies sieht Lessing viel realistischer als siebzig Jahre später Karl Marx – prinzipiell unaufhebbar: denn ihre Aufhebung würde Staat und Gesellschaft selbst zerstören. Lediglich als Vision einer fernen Zukunft ist der Gedanke einer Aufhebung von Staat und traditioneller Gesellschaft zulässig.

Von Übel sind auch die Rückwirkungen der Trennungen auf die Menschen, denn „wenn jetzt ein Deutscher einem Franzosen, ein Franzose einem Engländer ... begegnet, (– aktuell wäre zu sagen: ein Deutscher einem Türken begegnet –) so begegnet nicht mehr ein bloßer Mensch einem bloßen Menschen, die vermöge ihrer gleichen Natur gegeneinander angezogen werden, sondern ein solcher Mensch begegnet einem solchen Menschen, die ihrer verschiedenen Tendenz sich bewußt sind, welches sie gegeneinander kalt, zurückhaltend, mißtrauisch macht, noch ehe sie für ihre einzelne Person das geringste miteinander zu schaffen und teilen haben.“

Mit der gleichen Notwendigkeit, wie die Menschen den Staat brauchen, wie dann aber Trennungen entstehen zwischen Völkern, Religionen und Ständen, wie diese Trennungen wiederum mit unvermeidbaren Übeln verbunden sind, muss es nun Menschen geben, die durch Taten besonderer Art, Taten nämlich, die überflüssig machen, was man gemeinhin „gute Taten“ nennt und was wir heute unter den Komplex der Sozialpolitik subsumieren würden, die durch hiervon grundsätzlich zu unterscheidende „wahre“ Taten die genannten unheilvollen Trennungen so weit als möglich überbrücken, – ohne die Trennungen selbst, wegen der gleichfalls zerstörerischen Wirkungen, die dies zur Folge hätte, gänzlich abzuschaffen.

Doch nicht alle Menschen sind zu solchen Taten befähigt, nur eine Elite ist in der Lage, an diesem guten Werk mitzuwirken. Diese Menschen, die weisesten und besten eines jeden Staates, aber sind die Freimaurer, die Freimaurer, die es – wie Lessing sagt – „mit zu ihrem Geschäft gemacht haben, die Trennungen, durch die die Menschen einander so fremd werden, wieder so eng wie möglich zusammenzuziehen.“ Dies sind die „wahren Taten“ der Freimaurer, und aus ihnen besteht ihr Geheimnis. Solchermaßen „wahre Taten“ zu vollbringen bedeutet aber, so Lessing zum Schluss seiner Schrift, „Grundsätze der Freimaurerei exoterisch zu machen, und (lediglich) das, was sich nicht exoterisch machen läßt, unter Hieroglyphen und Symbolen zu verstecken.“

Liest man Lessings „Ernst und Falk“ im Hinblick auf die Vorwegnahme moderner Ideen, so entdeckt man im Kontext der „wahren Taten“ einen Gedanken, der mehr als 200 Jahre später als die sogenannte „Böckenförde-Formel“ wieder auftaucht. Der freiheitliche Rechtsstaat, so der Rechtsprofessor und Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde im Jahre 1976, lebe von Voraussetzungen, die er um der Freiheit Willen durch Gesetz und Rechtszwang selbst nicht schaffen könne und die, sollen sie in der politischen und gesellschaftlichen Realität wirksam werden, auf „die moralische Substanz des Einzelnen und die Homogenität der Gesellschaft“ angewiesen seien (9). Bei Lessing heißt es dem Sinne nach gleich, dass der Staat die „schrecklichen Grenzen“ zwischen Staaten, Kirchen, gesellschaftlichen Gruppen und Individuen durch Gesetzeskraft nicht einreißen könne. Zu ihrer Überwindung bedürfe es vielmehr eines „zusätzlichen Werkes“, eines opus supererogatum, und er wünscht sich, dass die Freimaurer es „mit zu ihrem Geschäft“ machten, daran kräftig Anteil zu haben.

Sozialer Rahmen dieser Kultur der Vermittlung, deren Medium und Ziel Freundschaft und Menschenliebe sind, und die sich in einem offenen Prozess der Wahrheitssuche realisiert, ist die bürgerliche Gesellschaft, deren vehementer Anwalt Lessing ist. „Die bürgerliche Gesellschaft – wofür hältst Du sie?“ fragt der Freimaurer Falk seinen Freund Ernst beim Spaziergang auf der Bad Pyrmonter Hauptallee. Und dieser erwidert: „Für etwas sehr Gutes“. Denn – so stimmen die Freunde überein –: „das bürgerliche Leben des Menschen, alle Staatsverfassungen sind nichts als Mittel zur menschlichen Glückseligkeit“. Und ein wenig später – nach Erörterung auch ihrer negativen Seiten – präzisiert Falk das für das politische Aufklärungsverständnis Lessings Wesentliche: „Wenn die bürgerliche Gesellschaft auch nur das Gute hätte, dass allein in ihr die menschliche Vernunft angebauet werden kann, ich würde sie auch bei weit größeren Übeln noch segnen“ (10).

Lessings Begriff von Freimaurerei

Lessings vielschichtiger Begriff von Freimaurerei lässt mindestens vier verschiedene, bis heute fruchtbare Aspekte erkennen:

  • Freimaurerei „ihrem Wesen nach“, d. h. als gesellschaftliche Funktion, Trennungen zu überwinden, und als solche „ebenso alt wie die bürgerliche Gesellschaft";
  • Freimaurerei als Elite der Weisesten und Besten, die die genannte gesellschaftliche Funktion des Brückenschlags zwischen Nationen, Religionen und Ständen als opus supererogatum ausübt;
  • Freimaurerei als historisch-konkrete Erscheinung des ausgehenden 18. Jahrhunderts, die von Lessing überwiegend kritisch behandelt wird, und schließlich
  • Freimaurerei als Freundschaftsbund, als Mitmenschlichkeit im Dialog, („nichts geht über das laut denken mit einem Freunde“), als fruchtbare Methode auch, durch Fragen dem Gesprächspartner zu Wissen und klaren Begriffen zu verhelfen.

Freimaurerei als jetzt und in Zukunft wahrzunehmende gesellschaftliche Funktion und Freimaurerei als reale historische Erscheinung fallen nicht zusammen, denn „Loge verhält sich zur Freimaurerei wie Kirche zum Glauben“. Hier setzt der freimaurerkritische Schriftsteller Lessing ein, dem wie er sagt „das Logenwesen, so wie es jetzt getrieben wird, gar nicht zu Kopf will“, und der eine anregende, aber auch unbequeme Lektüre zur Frage bietet, wie weit die jeweils real existierende Freimaurerei von der „Wesenheit Freimaurerei“ abfallen und sich Freimaurerei von sich selbst entfernen kann.

Lessing kritisiert aber nicht nur das zu seiner Zeit verwirklichte „konkrete Schema der Freimaurerei“ mit seinen Tempelherren- und Goldmacherschwärmereien, – weshalb sein Protagonist Ernst, der inzwischen Freimaurer geworden ist, seinem Freund Falk ja auch den Vorwurf macht, er habe ihn zu einem albernen Schritt verleitet, – Lessing stellt auch den Ansatz einer institutionalisierten Freimaurerei überhaupt in Frage, beruhe doch Freimaurerei „im Grunde nicht auf äußerlichen Verbindungen, die so leicht in bürgerliche Anordnungen ausarten; sondern auf dem gemeinschaftlichen Gefühl sympathisierender Geister“.

Freimaurerei ist ein Freundschaftsbund. Trennung durch und in Freundschaft zu überwinden, über die „wichtigsten Dinge“ laut mit dem Freunde nachzudenken, trennende Mauern mit kommunikativen Leitern zu überwinden, darin bestehen die Taten, die „wahren Taten“ der Freimaurer. Lessing spricht vom Hang, „in und neben der großen bürgerlichen Gesellschaft, kleinere vertraute Gesellschaften zu bilden“, entwickelt, um diesen Gesichtspunkt plausibel zu machen, die zwar historisch verfehlte aber konzeptionell stimmige Masonei-These und definiert am Ende seiner Schrift Freimaurerei als die Gesellschaft, „die sich von der Praxis des bürgerlichen Lebens zur Spekulation erhebt, um zu untersuchen, was unter dem Brauchbaren wahr ist“, d.h., was der Idee der „wahren“ Taten entspricht.

Lessing und die Freimaurerei der Gegenwart

Was kann Lessing im Hinblick auf die Freimaurerei der Gegenwart für uns bedeuten? Folgende Konsequenzen und Anwendungen scheinen mir interessant:

Zunächst: Lessings analytischer Grundbefund, dass die bürgerliche Gesellschaft gespalten ist, und dass zwischen den unterschiedlichen Gruppierungen, aus denen sie besteht, Klüfte und Gräben bestehen, die den inneren wie den äußeren Frieden gefährden und die man nicht dadurch beseitigen kann, dass man die Strukturen der Gesellschaft zerstört, ist für heute ebenso aktuell wie für das 18. Jahrhundert. Jede pluralistische Gesellschaft bedarf des Kittes, der sie zusammenhält – so kürzlich Bundespräsident Steinmeier – und jeder Gesellschaft – so ebenfalls jüngst der Bundespräsident – droht Zersplitterung durch immer wieder neu errichtete Mauern. Und je mehr sich die Gesellschaft aufspaltet, wie wir es in der Tat gegenwärtig erleben, desto dringlicher stellt sich die Frage nach wirkungsvollen Überbrückungsstrategien. Um solche zu entwickeln, bedarf es geeigneter Institutionen, problemadäquater politischer Konzepte und Politiker mit Leidenschaft und Augenmaß (Max Weber). Es bedarf aber auch der gesellschaftlichen Resonanz, es bedarf einer den internationalen und sozialen Frieden fördernder politischen Kultur, es bedarf einer Einstellung der Eliten, die so wirkt, wie Lessing es sich vom opus supererogatum der Freimaurer versprochen hat.

Lessings Verständnis der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Trennungen gilt aber nicht nur für den Bereich von Politik und Gesellschaft. Sie lässt sich auf die Freimaurerei übertragen: Auch der Freimaurerei geht es – „ontologisch“ im Sinne Lessings betrachtet – um den wirklichen heutigen Einzelmenschen, seine Freiheit und Würde, rituell bestimmt durch seine individuelle Initiation. Um diese zu vermitteln, bedarf es der Vereinigung zur Freimaurergruppe, zur Loge insbesondere, zur Großloge. Diese Freimaurergruppen aber sind wie Staat und Gesellschaft, sie vereinigen nicht nur, sondern sie trennen auch. Und während sie institutionell-organisatorisch trennen, verändern und verwandeln sie die Menschen in den Logen. Aus bloßen Brüdern werden solche Brüder: Brüder unterschiedlicher Logen mit zuweilen gegensätzlichen Interessen; Brüder verschiedener Großlogen und Lehrarten mit oft seltsamen Ambitionen: anglophile und frankophile Brüder; Brüder mit hohen Graden und Brüder ohne solche; reguläre Brüder und – horribile dictu – irreguläre Brüder und so weiter und so fort.

Die Folge ist, dass aufgrund dieser Trennungen alles andere als ein hohes Konfliktpotential innerhalb der Freimaurerei erstaunlich wäre, und deshalb bedarf es immer wieder intensiver Anstrengungen, um die unvermeidlichen aber keineswegs guten, ja – mit den Worten Ernsts – durchaus „schrecklichen“ Trennungen zwischen den Brüdern zu überwinden: Es bedarf gleichsam – auf diese Formel hat es ein Bruder meiner Loge einmal gebracht – permanent der Freimaurerei in der Freimaurerei; es ist ein Verhalten erforderlich, das Trennungen überbrückt, ohne freilich die Eigenständigkeiten freimaurerischer Gruppen und die mit ihnen verbundenen Identitäten zu zerstören.

Lessing schärft unsere Aufmerksamkeit dafür, dass Freimaurerei sich selbst verfehlen kann, dass neben der eigentlichen, der „wahren“ Freimaurerei eine schädliche, eine „Zweite Freimaurerei“ besteht, gegen die es vorzugehen gilt und der sich auch die Freimaurerforschung intensiv zuzuwenden hätte. Allerdings: Für Lessing sind Institutionen wie Logen und Orden – was ihren Charakter als Organisationsformen betrifft – von relativ geringer Bedeutung. Entscheidend ist „das gemeinschaftliche Gefühl sympathisierender Geister“, von Bedeutung allein sind die Taten der Freundschaft. Freimaurer sind vor allem Freunde, die laut miteinander denken, die nicht mit Vorurteilen und Ideologien gegen einander vorgehen, die vielmehr kritisch sind und offen.

Schließlich: Was wir von Lessing auch lernen sollten, ist, dass sich eine engagierte Identifizierung mit der Freimaurerei auf der einen Seite und die gleichzeitige kluge und differenzierte Distanzierung von der Freimaurerei auf der anderen Seite durchaus miteinander verbinden lassen, ja das eine solche Verbindung höchst erwünscht ist. Wir Freimaurer ersticken viel zu oft in einer flachen und nicht selten langweiligen Akklamation. Wir sind offensichtlich häufig einfach zu nahe dran an der Freimaurerei, um mit gelassener Distanz mit ihr umzugehen und unseren Bund auch einmal mit einem Augenzwinkern zu betrachten.

Wir lassen uns auch viel zu oft von unseren Ritualen erdrücken. Statt wichtige, doch zugleich elastische Werkzeuge unserer Selbstverständigung in ihnen zu sehen, wir sind in Versuchung, sie als höhere Offenbarung anzusehen und nicht als von uns früher oder später selbst geschaffenes Menschenwerk, weshalb wir dann auch Schwierigkeiten haben, fruchtbare Ritualdiskurse zu führen.

Von Lessing können wir lernen, dass Rituale sekundär sind und den Ideen nachfolgen:
Auf Ernsts Frage:
„Die Freimaurerei wäre nichts Willkürliches? – Hat sie nicht Worte und Zeichen und Gebräuche, welche alle anders sein können und folglich willkürlich sind?,
lässt Lessing sein alter ego Falk antworten:
„Das hat sie. Aber diese Worte und Zeichen und diese Gebräuche sind nicht die Freimaurerei.“

Schließlich: wenn Lessings lehrt, dass man sich auch mit etwas identifizieren kann, indem man Abstand dazu gewinnt, dann sollten wir neben dem eigenen Nachdenken auch die Freimaurerforschung der externen Wissenschaftler stärker berücksichtigen als bisher, die ja – beginnend mit Reinhart Kosellecks „Kritik und Krise“ – in den letzten Jahrzehnten erheblich zum Lessing-Diskurs beigetragen hat (11).

Gehen wir all diesen Gedanken und Denkanstößen nach, so kann Lessing uns helfen, die alte, doch auch für uns entscheidende – von mir eingangs bereits zitierte Frage – besser zu beantworten als bis her: „Was und warum Freimaurerei ist, wann und wo sie gewesen, wie und wo sie befördert oder gehindert wird.“

Mir legt die Lektüre Lessings die folgende Antworten nahe: Freimaurerei ist da lebendig,

  • wo sie „nicht willkürlich“ ist, sondern „notwendig“, und das heißt, wo sie eine gesellschaftlich nützliche Funktion wahrnimmt,
  • wo sie mit der Gesellschaft in einer Beziehung von Herausforderung und Antwort verknüpft ist,
  • wo sie durch „wahre Taten“ – und das heißt durch Überwindung von Trennungen und Stiften von Gemeinsamkeit, von Kitt in der Gesellschaft – langfristig und dauerhaft Gutes bewirkt.

Ob wir es wohl schaffen, dass es auch über unsere Freimaurerei, die Freimaurerei des 21. Jahrhunderts, einmal heißt, sie sei nichts „Willkürliches“, nichts „Entbehrliches“, sondern etwas „Notwendiges“ gewesen? Wir sollten darüber nachdenken, und unsere Taten, unsere „wahren“ Taten, die Taten, aus denen unser Geheimnis besteht, danach ausrichten.




Bibliographie:

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1) Ausführlich dazu: Hans-Hermann Höhmann, Zwischen Aufklärung und Esoterik. Humanistische Freimaurerei als Projekt für des 21. Jahrhundert, Leipzig2013, S. 24-33.
2) Odo Marquard, Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Betrachtungen über Modernität und Menschlichkeit, in: Philosophie des Stattdessen. Studien, Stuttgart 2000, S. 66-78, hier S. 71.
3) Darnton, Robert: Das Glück der Gemeinschaft, in: Aust, Stefan / Schmidt-Klingenberg, Michael (Hrsg.), Ein Kontinent macht Geschichte. Experiment Europa, Stuttgart / München 2003, S. 125-143, hier S. 126.
4) Vgl. hierzu und zum Folgenden: Wolfgang Förster, Lessings Religionskritik und Geschichtsphilosophie – Kulminationspunkt der deutschen Aufklärung, http://www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de/article/533.lessings-religionskritik-und-geschichtsphilosophie-kulminationspunkt-der-deutschen-aufklaerung.html, zuletzt angesehen am 07. 11. 2017. S. auch die dort angegebene Literatur.
5) Ebenda.
6) Ebenda.
7) Die interessanteste Edition ist immer noch: Gotthold Ephraim Lessing: Ernst und Falk mit den Fortsetzungen Johann Gottfried Herders und Friedrich Schlegels, hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Ion Contiades, Frankfurt am Main 1968. Vgl. auch Dziergwa, Roman: Lessing und die Freimaurerei. Untersuchungen zur Rezeption von G. E. Lessings Spätwerk „Ernst und Falk. Gespräche für Freymäurer in den freimaurerischen und antifreimaurerischen Schriften des 19. und 20. Jahrhunderts (bis 1933), Frankfurt am Main u. a. 1992.
8) Vgl. Wolfgang Dittrich, Aspekte der Lessing-Rezeption in der deutschen Freimaurerei, in: Quatuor Coronati Jahrbuch für Freimaurerforschung, Nr. 41/2004, S. 149-168. Die Findel- und Runkelzitate sind dem Text von W. Dittrich entnommen.
9) Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: Recht, Staat, Freiheit, Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt am Main 1991, S. 42-64, hier S. 60.
10) Lessing, Ernst und Falk, a.a.O., S. 26.
11) Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Freiburg/München 1959.


Siehe auch

Links