Kosmos: Nachdenken

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Festschrift aus Anlass des 40-jährigen Jubiläums der Johannis-Freimaurerloge Kosmos im Orient Königswinter, Arbeitssitz Bonn, vereinsrechtlich gemeldet im Vereinsregister der Stadt Köln. Die Publikation fällt nicht unter die freimaurerische Deckung. Alle Namensnennungen erfolgen unter Zustimmung der betroffenen Personen.

Nachdenken

Aus der Festschrift Kosmos

Intelligence du coeur

Mensch, werde wesentlich!

Reinhard Pusch

„Mensch, werde wesentlich!“ – Mit diesem Appell des MvSt und Kernsatz aus unserem Ritualschatz werden in uns Brüdern Bewusstseins-Ebenen angesprochen, die von Kopf-Intelligenz und Ratio bis hin zu Innenschau und geistigspirituellem Erleben reichen. Das ist die große Freiheit, die die Königliche Kunst uns eröffnet – die Freiheit unserer ganz individuellen Interpretation der Symbole, Wegwahl und Korrektur mit fortschreitender Arbeit am rauen Stein. Die Dramaturgie unserer Rituale – im Folgenden ausgehend vom Lehrlings-Ritual – wird von vielen Brüdern als Aufforderung verstanden, ihren „Geist“, verstanden als „Intellekt“, zu entfalten und nach einer Tempelarbeit mit „guter“ Zeichnung, „klüger“ hinauszugehen, als sie hineingegangen sind.

Vom Anfang meines Weges in und mit der Freimaurerei seit 1982 bis heute bewegt mich die Frage: Wo wollen mich Rituale und Symbole berühren und wo öffne ich mich, um ihre Kraft segensreich auf mich wirken zu lassen? Ein genaueres Hinschauen und Hinhören, zumal bei der Aufnahme eines Suchenden – stimmte mich schon relativ früh kritisch, wenn auch weiter durchaus offen gegenüber einer moderaten Anwendung des Kopf-Ansatzes ein. Intellektuelle Brillanz ist in unserer Konkurrenz-Gesellschaft allemal faszinierender und gewinnbrin-gender als die uns aus dem Alltageschehen herausführende Innenschau. Dennoch – ob bei der Vorbereitung des Suchenden, bei der festlichen Einleitung, bei der Werklehre vor Öffnung der Loge oder bei der Aufnahmehandlung – immer wieder wird die Aufmerksamkeit im Ritual auf unser Inneres gerichtet: „...was er sucht, vermag er nur in seinem Inneren zu finden...“ und „...öffnen Sie nun weit Ihr Herz und vernehmen Sie das Wort, das Sie in die Mitte des Tempels führt:

Erkenne Dich selbst !

Folge ich dieser zentralen Aufforderung des Rituals und uralten Erkenntnis der Weisen, dann bin ich nicht auf den Kopf fokussiert, sondern auf unser zentrales Organ, das Herz!

Diese Ausrichtung setzt sich bei den Reisen fort, u.a. mit dem Hinweis des MvSt auf das Ziel der Maurerei, nämlich die innere Wandlung des Menschen. Auch die Spitze des Zirkels mit den drei Schlägen des MvSt wird sinnvollerweise nicht am Kopf, sondern auf der Brust angesetzt - „...dort, wo das Herz schlägt“. Wenn man dann noch erfährt, dass das amerikanische Institut „Heartmath“ die Existenz einer real existierenden “Gehirn-Zone“ im menschlichen Herzen entdeckt hat, das aus rd. 40 000 Zellen bestehen soll und dass von dieser auch der Herz-Rhythmus aktiviert wird, bevor beim Embryo das Hirn gebildet wird, schließt sich für mich der Kreis im Bild der Lebens-Spirale.

Er mündet in der von unserem MvSt aus Frankreich mitgebrachten „Metapher“ der „intelligence du coeur“, der Intelligenz des Herzens. Ihr ist nach meinem Verständnis der besondere Fokus unserer Rituale und auch Symbole gewidmet, sehr schön nachvollziehbar am Lehrlings-Ritual, das ja der Aufnahme in den Bund und Hinführung zu den Kernwahrheiten der Königlichen Kunst dienen soll. Diesem Fokus sollten wir Brüder uns sehr viel mehr öffnen, ohne allerdings unsere Kopf-Qualitäten zu vernachlässigen! Im Gegenteil sollten wir sie dienend – der Herzensintelligenz dienend – einsetzen und uns nicht in der Ratio erschöpfen.

Konkret: In der Ritual-Arbeit immer mal wieder ganz bewusst in unser Herz hinein horchen, wenn uns ein Symbol oder eine Symbol-Handlung besonders anspricht – wie fühlt sich das an, was sagt es mir? Und in Alltagssituationen ebenfalls innehalten – was will mein Kopf? Was sagt mir mein Herz? Und im Falle einer Entscheidung, wenn möglich, der Stimme des Herzens folgen … Aus all dem ergibt sich für mich: Das Herz – die Entfaltung unserer Herz-Qualitäten – wird in uns das Unschaubare schaubar machen, uns im Alltag mehr und mehr helfen und uns zu einem fertigen Baustein im Tempel der Humanität und weit darüber hinaus – im Sein – formen. Mensch, werde wesentlich …!

Aufklärererische Spiritualität?

Zur notwendigen Gleichzeitigkeit von Spiritualität und progressivem Denken in der Freimaurerei

Dieter Ney

Für den externen Beobachter erscheint die Freimaurerei als ein Produkt von Geistesströmungen, die heute schwerlich vereinbar sind, scheint sie doch in ihrer institutionellen Gründungsphase ebenso sehr von esoterischen wie auch von aufklärerischen Ideen bestimmt zu sein. Diese Heterogenität prägt die Freimaurerei auch heute noch, aber es wäre eher ein Kennzeichen der Schwäche der Freimaurerei, wenn man versuchte, diese Heterogenität zugunsten einer Seite aufzulösen, denn sie ist – als konstitutives Element – gerade ihre Stärke.

Die Probleme fangen schon an, wenn man versucht zu bestimmen, was die Freimaurerei ist: Religion, emanzipatorische Bewegung, kritische politische Instanz, laizistische Spiritualität, ausgrenzender Geheimbund, elitistischer Zirkel? Angesichts der Tatsache, dass die Freimaurerei irgendwie eine ganze Reihe von Kriterien erfüllt, die all diesen Qualifizierungen Recht geben, wird eine eindeutige Antwort schwer.

Ein Blick auf die Zeit, in der die Freimaurerei sich institutionell entwickelt hat, kann einen guten Hinweis darauf geben, wie eine Antwort aussehen könnte. Im England des 18. Jahrhundert blickte man auf eine Zeit zurück, die zutiefst von politischen Konflikten geprägt war, die zumeist religiöse begründet wurden. Fragen des religiösen Bekenntnisses wurden entsprechend im Rückblick als radikale Bedrohung des Zusammenlebens empfunden, und im Geiste des englischen Pragmatismus legte sich die Lösung nahe, das soziale Konfliktpotential des Religiösen prinzipiell anzuerkennen, aber praktisch durch Ausschluss zu umgehen.

In diesem Sinne lassen sich manche Passagen der Andersonschen Alten Pflichten geradezu als weise Ratschläge interpretieren, die die Gemeinschaft gefährdenden religiösen und politischen Fragen einfach als Thema innerhalb der Logen zu verbieten. Im Lichte eines solchen Pragmatismus erscheint es geradezu natürlich, dass sich die Freimaurerei zu einer religiös unterbestimmten Spiritualität und Moralität entwickelte, gleichsam als friedensdienliche Schrumpfform der Religion und der Politik. Darin erinnert man sich des Spruches, der dem englischen Staatstheoretiker John Locke zugeordnet wird, nach dem der Mensch im Naturzustand dem anderen ein Wolf ist („homo homini lupus est“) und der Staat mit seinen Gesetzen diesem naturalen Kriegszustand entgegen zu wirken habe.

Gleichwohl ist diese These nicht ganz glaubwürdig, denn die zur Entwicklung und Verbreitung der freimaurerischen Ideen notwendige Leidenschaft lässt sich nur um den Preis der Unglaubwürdigkeit mit dem Programm der Mäßigung erklären. Die geschichtliche Kraft der Freimaurerei lässt sich viel einfacher verstehen, wenn man davon ausgeht, dass es ihr gelungen ist, Kräfte zu bündeln ohne sie in Konflikt miteinander zu bringen.

Die historische Konstellation zur Zeit der Institutionalisierung der Freimaurerei war nämlich beileibe nicht allein von der Erfahrung der politisch missbrauchten Religionskonflikte geprägt. Die Gruppen, die sich in den frühen „spekulativen“ (also nicht mehr allein den wirtschaftlichen Interessen der handwerklichen Bauwerker verbundenen) Logen einfanden, waren von sehr unterschiedlichen Leidenschaften geprägt.

Den Bauwerkern ging es wahrscheinlich darum, ihre kulturellen Eigenarten bewahren zu können, ihre Traditionen zu pflegen, dies in einer Zeit, in der sie ihre berufliche Legitimation für ihre kulturelle Sonderrolle aufgrund der geschichtlichen Entwicklung längst verloren hatten – die gotischen Kathedralbauhütten waren eine verflossene Tradition und die aktuellen kirchlichen Bauprojekte standen spätestens seit der Renaissance unter der Aufsicht von Bauingenieuren mit einem nicht mehr handwerklichen Zugang.

Die zweite Gruppe der Menschen, die in die frühen Freimaurerlogen strebten, waren Adelige unter dem Einfluss der Renaissance. Nach dem Untergang des mittelalterlichen „ordo“, der ihre Rolle innerhalb einer gottgegebenen Gesellschaftsordnung bestimmte, fanden sie sich konfrontiert mit der Frage, worin ihre neue gesellschaftliche Stellung bestehen könnte, und sie fanden sie in dem vermeintlich antiken Konzept einer durch Bildung vermittelten privilegierten Selbstwerdung, die anderen sozialen Gruppen aufgrund ihrer ökonomischen Abhängigkeit nicht zugänglich war.

Das leitende Identifikationsobjekt der Adeligen waren die antiken Mysterienkulte, die ihnen die Abgrenzung gegenüber anderen sozialen Schichten in einer Zeit erlaubte, in der die gottgestiftete gesellschaftliche Position als Adelige zunehmend in Frage gestellt wurde. Inhaltlicher Kernbereich dieser antiken Mysterienkulte waren geometrische Überlegungen, die den Adeligen, wenngleich auch nur rudimentär, über ihr adeliges Bildungsprogramm bekannt waren. Andererseits galten die Nachfolger der mittelalterlichen Bauhütten als die letzten Bewahrer der geometrischen Geheimnisse der antiken Mysterienkulte, so lag es nahe, dass die Adeligen auf der Suche nach ihrer neuen Rolle in der Gesellschaft sich an die Maurerlogen wandten. Sie suchten in den Bauhütten die versprengten Reste einer geheimnisvollen geometrischen Weisheitslehre der Harmonie, die ihre gesellschaftliche Stellung neu legitimieren könnte, sozusagen als neuen weisheitlichen Geistesadel.

Die dritte Gruppe, die sich in den frühen Freimaurerlogen einfand, bestand aus Mitgliedern des aufstrebenden Bürgertums. Ihr Selbstbewusstsein speiste sich einerseits aus ihrem wirtschaftlichen Erfolg, andererseits aus den offensichtlichen Erfolgen der neuzeitlichen Wissenschaft, die sich in ihrem empirischen Zugang deutlich abgrenzte von der autoritätsbasierten mittelalterlichen Wissenschaft.

Dass viele bürgerliche Mitglieder von Freimaurerlogen der Neuzeit zugleich beim Aufbau wissenschaftlicher Gesellschaften wie der Royal Society engagiert waren, erstaunt nicht. Prägend war die Idee, dass die Kategorie der Tradition ihre Bedeutung verloren hatte, sowohl in wirtschaftlicher wie in wissenschaftlicher Hinsicht; was zählte, war der Erfolg.

Wenn jemand erkannt hatte, wie die naturwissenschaftlichen Gesetze funktionierten, dann spielte es keine Rolle mehr, welche gesellschaftliche Position er hatte. Im Umkehrschluss ergab sich, dass die gesellschaftliche Bedeutung nichts mehr mit irgendwelchen gottgegebenen Ordnungen zu tun hatte, sondern nur mit der Einsichtsfähigkeit des Einzelnen.

Dieses Paradigma wurde auch schnell auf den ökonomischen Bereich angewendet, mit der Konsequenz, dass das Bürgertum nun auch auf politischer Ebene zunehmend Ansprüche anmeldete. Diese Ansprüche aber konnten sich in einer feudalen Gesellschaft politisch nicht durchsetzen. Entsprechend suchten sich die bürgerlichen Gruppen einen vor staatlicher Kontrolle geschützten Raum, in dem sie sich ihrer neuen, gleichwohl politisch noch unterdrückten Rolle versichern konnten. Und die Bauhütten konnten ihnen einen solchen Raum aufgrund ihrer alten Privilegien bieten.

So erwiesen sich die Bauhütten in England aufgrund einer einmaligen historischen Konstellation zum idealen Ort einer Begegnung von Gruppen mit sehr unterschiedlichen Interessen. Je nach Kultur und Tradition entwickelten sich Freimaurereien in den verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich. Die Kernidee der Freimaurerei, die Arbeit des Maurers an sich selbst, wird sehr verschieden interpretiert, mal im Sinne einer Spiritualität ohne enge Bindung an institutionalisierte Religion, mal im Sinne eines an den Werten der Aufklärung orientierten persönlichen Weges, der auch Effekte auf das Selbstverständnis als Bürger in einer Gesellschaft hat, mit entsprechenden politischen Wirkungen; gelegentlich treten Großlogen sogar mit politischen Forderungen in der Gesellschaft auf. Institutionell führte diese ursprüngliche Heterogenität zur Ausprägung von Großlogen mit ausgeprägten Profilen (so in Frankreich und Belgien), in anderen Ländern, in denen vor allem eine zahlenmäßig dominante Großloge existiert, die die Anerkennung der United Grandlodge of England genießt, sind die unterschiedlichen Strömungen in zumeist gemäßigter Form innerhalb einer Großloge zu finden (so in Deutschland und Österreich).

Die vor allem in großen Ballungsräumen anzutreffende Tendenz zu scharfer Profilierung – sowohl auf Großlogen- wie auf Logenebene – mag Vorteile bringen (insbesondere für Menschen, die auf der Suche nach ihrem Platz in der Freimaurerei sind und ihre Entscheidung für eine bestimmte Großloge oder Loge an einer Programmatik festmachen), sie führt aber auch dazu, dass die ursprüngliche innere Vielfalt immer weniger innerhalb einer Loge stattfindet, sondern sich verlagert in programmatisch sich voneinander abgrenzenden freimaurerischen Profilen der Logen und Großlogen, eine Tendenz, die die Universalität der freimaurerischen Idee zunehmend in Frage stellt zugunsten von Gesinnungsgruppen, in denen sich eh nur Menschen treffen, die sich weitestgehend schon einig sind.

Freimaurerlogen sind Arbeitsräume, in denen die Menschen sich der Arbeit an sich selbst widmen wollen und sollen. Diese Selbstentwicklung ist im initiatorischen Weg der Freimaurerei bewusst tief eingebettet in einen heterogenen sozialen Raum mit konfligierenden Interessen der unterschiedlichen beteiligten Personen. Dies soll vermeiden, dass die Selbstbildung zu einer egoistischen Selbstfindung degeneriert.

So war es schon in der Gründungsphase der institutionellen Freimaurerei im England des 18. Jahrhunderts. Das Nebeneinander von Spiritualität und gesellschaftlichem Aufklärertum in den Logen führte und führt hoffentlich weiterhin zu einem fruchtbaren Austausch zwischen freimaurerisch arbeitenden Menschen, zu dessen Förderung sich die frühe Freimaurerei in Form der Alten Pflichten einfache Regeln gegeben hat, die die Destruktivität des Heterogenen mildern sollte.

Nur wenn die Vielfalt in jeder Loge sichtbar ist, wird sie sich das Feuer bewahren, das ihre Stärke ausmacht. Der schwierige Begriff einer aufklärererischen Spiritualität, der offensichtlich Unvereinbares zu enthalten scheint, sollte weiterhin das Programm der Freimaurerei bleiben.

En route

Gerhard Scheucher


„Wege entstehen dadurch, dass man sie geht“ (Franz Kafka) – In einer für mich gefühlten Ewigkeit ging ich in der Dunkelheit dahin, ich hörte, ich spürte, ich schmeckte, ich roch. Ich bückte mich, ich ging schnell, oftmals wurden die Schritte langsamer. Manchmal fühlte ich mich alleine, dann wieder zu zweit, einige Momente lang dachte ich mir, dass viele Wesen mich begleiten würden.

Noch heute höre ich diese Geräusche, es waren in meiner Wahrnehmung dumpfe Klänge, die dann wieder hell und laut ertönten. Im Nachhinein wusste ich, dass viele Menschen mit ihren Füßen in den Boden getreten haben. Wenngleich es sich nicht anhörte wie ein Treten, es war sanfter, einige Momente dachte ich an diesen leichten und luftigen Step Dance, der den berühmten Song „Singin’ In The Rain“ begleitet.

Es hatte nahezu etwas von einem Rhythmus, dieses synchronisierte Gestampfe. Plötzlich wurde es wieder ruhiger, noch immer war das Sichtbare von mir getrennt. Ich merkte aber, dass die Spannung nicht nur in mir ins Unermessliche gestiegen war, sie hatte sich von der gesamten Halle, in der rund 400 Menschen gesessen sind, auf mich übertragen, oder umgekehrt. Phrasenhaft hatte ich noch einige Sätze wahrgenommen, an Einzelheiten kann ich mich aber nicht mehr erinnern.

Mein Inneres wurde immer unruhiger, alle meine Sensoren signalisierten meinem Kopf und meinem Bauch, dass es gleich vorbei sein würde mit dieser nahezu schon unerträglichen Dunkelheit, mit diesem undefinierbaren Erleben, das sich nicht einordnen liess. Trotz dieser Unsicherheit fühlte ich mich wohl aufgehoben, ich spürte eine Hand, die meine hielt oder die meine Schulter erfasste, wenn ich Angst signalisierte. Plötzlich bemerkte ich, wie sich meine Augenbinde öffnete, es wurde Licht, ich sah mein eigenes Antlitz in einem Spiegel.

Ich war von der Situation nahezu überfordert, all diese Schritte, all diese Empfindungen, all diese Übungen, all diese Reisen – und am Ende stand ich mir selbst gegenüber. Fremde Worte begleiteten das Szenario, es war eine Aufforderung, die ich vernahm. Plötzlich verschwand mein eigenes Gegenüber Gegenüber, welches vielen Säbeln wich, die sich vor mir aufgetan hatten. Eine unvergessliche Reise, meine Aufnahme beim internationalen Kolloquium des Freimaurerordens für Männer und Frauen LE DROIT HUMAIN ging dem Ende zu und brachte mich in ein neues Reich, dem der Königlichen Kunst, der Freimaurerei.

Der Alltag bringt uns nicht weiter

Zurück blieb das Gefühl, etwas Unvergleichliches erlebt zu haben. Etwas, das meinem Leben nachhaltig eine neue Dimension gegeben hat. Ein Augenblick für die Ewigkeit, der mich, der meine Persönlichkeit, verändern sollte. Und sind es nicht genau diese starken Momente, die sich in unseren Köpfen manifestieren, die uns eine Bedeutung über den Tag hinaus geben? Die in uns Bilder generieren, die immer und immer wieder abrufbar sind, positiv kodiert. Anlässe, an die wir uns gerne erinnern.

Warum treffen wir uns in unserer Bauhütte? Ist nicht genau das der Grund? Freuen wir uns nicht alle auf die Zeichnungen, die Brüder von uns halten, die uns ein wenig innehalten und Abstand vom Alltag gewinnen lassen? Wollen wir nicht alle etwas wissender ins profane Leben zurückkehren, als wir hergekommen sind, um es in den Worten unseres ehrwürdigen Meisters vom Stuhl, Bruder Albert, zu sagen?

Kommen wir nicht genau deshalb an diesen Ort, in die Dyroffstraße 2, nach Bonn? Reisen wir nicht genau aus diesem Grund Dienstag für Dienstag an, damit wir uns in Erinnerung rufen, dass wir nicht alles von diesem geheimnisvollen Planeten, von dieser unserer Erde wissen? Ist nicht das genau der Grund, warum wir uns auf Wanderung begeben? Aus allen Himmelsrichtungen kommend, treffen wir uns zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Tag, um in Gemeinschaft über Fragen des Lebens nachzudenken.

Um am rauen Stein des Geistes zu hämmern, zu feilen und zu schleifen, im brüderlichen Diskurs, um Antworten zu finden, die uns signalisieren, dass eine Gruppe von Gleichgesinnten in Summe mehr an Substanz entwickeln kann, als jemand, der den gesamten Tag einsam und alleine zu Hause sitzt.

Für mich sind die Reisen nach Bonn besondere Ereignisse, der gesamte Tagesablauf gestaltet sich anders. Schon morgens richte ich meine freimaurischen Utensilien, das Bijou, den Schurz, die Handschuhe und die weiße Krawatte her und erfahre alleine durch diese Handlung einen inneren Impuls, der mir einen besonderen Tag ankündigt: die Reise von Wien nach Bonn. Es ist mir so vertraut geworden, wenn mich meine Brüder Dieter und Ewgenij manchmal gemeinsam, oder auch einzeln am Flughafen Köln-Bonn in Empfang nehmen. Wir alle reisen an diesem Tag, wir suchen Gemeinschaft, wir suchen den Diskurs, wir wollen neue Erkenntnisse gewinnen, die wir in die Welt tragen können. Mein freimaurerischer Weg hat mich über Wien nach Bonn zur „Loge Kosmos“ geführt. Ohne den mir zum wirklichen Freund gewordenen Bruder Dieter hätte ich niemals erfahren, dass es euch gibt, dass es eine lebendige Freimaurerei gibt. Er war mein „Reiseleiter“ im besten Sinn des Wortes, er hat meine Wanderung zu euch so gestaltet, dass ich lernen konnte, erfahren durfte, beobachten wollte.

Daher bin ich überzeugt davon, dass uns das, was wir sowohl im profanen als auch im maurerischen Sinn Alltag nennen, nicht weiterbringt. Die Macht der Gewohnheit ist der Stillstand der Gegenwart und der Tod der Zukunft. Jeder möge sich seine Meinung dazu bilden, aber ich finde, dass die gängigen Gepflogenheiten im Denken und Handeln, genau durch unsere Zusammenkünfte verhindert werden können, das scheint mir eine ganz wesentliche Erkenntnis unserer gemeinsamen Reisen zu sein.

Das Innerste unseres Hauses, der Tempel, ist jener Platz, wo Standpunkte artikuliert, Meinungen ausgetauscht und Haltungen eingenommen werden. Und weil alle Menschen und auch wir Brüder so unterschiedlich sind, brauchen wir Impulse, die uns von Konventionen befreien. Die Zusammenkünfte in der Gruppe setzen Bewegung des Individuums voraus. Und das ist die Basis, um an gemeinsamen Zielen zu arbeiten. In diesem Kontext betrachtet, bietet uns das Reisen die Gelegenheit, uns relativ einfach dessen bewusst zu werden, wie komplex, wie unterschiedlich und facettenreich das Leben ist. Oder anders, in unserem Sinne formuliert, am Stein der Erkenntnis zu arbeiten.

Wir brauchen Impulse für unseren Geist

Wenn wir uns im profanen Leben auf Reisen, auf eine Wanderung begeben, dann hat dies in meiner Beobachtung auch damit zu tun, dass wir etwas suchen, was uns im eigenen Leben, im eigenen Lebensraum vielleicht fehlt. Jeder Mensch braucht Bezugspunkte. Anker, die Orientierung schaffen.

Diese können beispielsweise auf emotionaler oder auch auf rationaler Ebene entstehen. Eine von Emotion getragene Anknüpfung kann die Hingabe, die Liebe zu einem Menschen sein. Eine rationale Beziehungsgröße kann der Bezug zu einem Ort sein: einem Raum, einer Wohnung, einem Haus, einer Stadt, einem Land. Solche Emotionen und Plätze brauchen wir, um Orientierung zu finden, um Heimat spüren zu können, um zu wissen, wo man hingehört.

All dem vorausgesetzt brauchen wir aber horizontale und vertikale Verknüpfungen, die wir irgendwo erfahren oder erleben müssen. Nur wenn wir in die Welt hinausgehen, nur dann, wenn wir anderen Menschen gegenübertreten, dann werden wir eigene Standpunkte und Sichtweisen überprüfen können. Wie soll sonst Wertbeständiges entstehen können, ein neuer Spirit tragfähige Fundamente bilden? Es geht dabei nicht um die Kompensation persönlicher Defizite, sondern um Weiterentwicklung, durch die Reflexion anderer Lebensumstände, ein zutiefst maurerischer Auftrag, wie ich meine. Um es weniger abstrakt zu formulieren: Wie soll der, der nichts von der Welt gesehen hat, der nie andere Länder kulturell erfahren hat, ein Sensorium für eine vernetzte und globale Welt entwickeln können?

Ich denke mir oft, wo würde ich mich heute in meiner Wahrnehmung befinden, wenn ich nicht so viele Plätze auf dieser Erde heimgesucht hätte. Wenn man einmal eine Zeit lang in Amerika verbringt oder in Asien, dann werden viele gesellschaftliche Entwicklungen selbsterklärend. Und diese Reisefreiheit, wie wir sie kennen, ist ein besonderes Privileg unserer Generation, das wir bei jeder sich bietenden Gelegenheit nutzen sollten. Reisen ist so einfach geworden und hat uns schon vor hunderten von Jahren immer besondere Sichtweisen gebracht, Neues gezeigt.

Es hat viele große Reisende gegeben, die Eingang in die Geschichtsbücher gefunden haben. Denken wir an den Venezianer Marco Polo, der schon im Mittelalter nach eigenen Angaben auf dem Landweg nach China reiste. Oder an Vasco da Gama, der den Seeweg nach Indien entdeckte, oder an Christopher Columbus, um nur drei Beispiele zu nennen. Welche Perspektiven haben sich durch die Erkenntnisse dieser Reisenden den Völkern eröffnet! Oder wie lange hat es gedauert, dass die Gesellschaft erkannt hatte, dass Bildungsreisen nicht nur dem britischen Adel im 16. Jahrhundert einen Startvorteil im Leben einräumen, in Sachen Sprachkompetenz, im Hinblick auf kulturelles Verständnis.

1987 wurde mit dem ERASMUS- Programm der Europäischen Union erstmals ein paar hundert Jahre später eine Voraussetzung geschaffen, um Studierenden aus allen gesellschaftlichen Schichten die Chance zu eröffnen, durch Auslandssemester wertvolle Erfahrungen zu sammeln. Die Volksweisheit „Reisen bildet“ ist von ungebrochener Popularität.

Wandere und werde besser

Sind unsere Bauhütten nicht in der Intention der vorhin formulierten Gedanken so etwas wie Anbieter für exklusive Bildungsreisen? Wir Freimaurer reisen, reisen in Stille, reisen alleine, reisen in der Gemeinschaft. Unsere Wanderungen setzen sich zum Ziel, einen der faszinierendsten Punkte zu erreichen den es gibt, uns selbst! Unsere Innenwelt!

Irgendwo habe ich einmal für diese Erfahrungen, die wir sammeln, eine schöne Metapher gefunden, die ein mir unbekannte Autor folgendermaßen skizzierte: „Unsere freimaurerischen Reisen sind kaskadenartige Erfahrungen, die aber durch das Wasserrad immer wiederkehrend neu erfahren werden – nie gleich sind und deshalb durch das gleiche Ritual neue Erkenntnisse bringt, weil Altes und Bekanntes ausgeblendet werden kann, um so der Essenz auf die Spur zu kommen.“

Die Reisen in Intention der Bruderkette zeigen uns den Sinn des Menschseins. Wir alle sind, in der richtigen Relation betrachtet, ein Flügelschlag zwischen Leben und Tod. Als Freimaurer erleben wir, Einsamkeit zu ertragen, uns selbst zu erkennen, aber ebenso für andere da zu sein, ihnen zu helfen, sie zu begleiten.

Einsichten und Ansichten entstehen durch permanente Überprüfung eigener inhaltlicher Standpunkte und die Akzeptanz dessen, dass die Erde doch keine Scheibe, sondern ein Planet mit einer Unzahl von Besonderheiten ist. Die Freimaurerei ist eine besondere Option, Menschen und Gruppen, Länder und Regionen zu erfahren. Die Wanderung ist der Angelpunkt und die Drehscheibe dafür!

Schon Bruder Johann Wolfgang von Goethe hat in den Schlusszeilen seines Gedichts über die „Perfektibilität“ das Fazit gezogen: „Willst Du besser sein als wir, lieber Freund, so wandere!“

Und er hat offensichtlich gewusst, wovon er gesprochen hat, wenn man seine Italienreise bewertet. Da gibt es einen Mann, der eine Unzahl von Gedichten, Dramen, Versen und Prosa verfasst hat, der seiner Heimat entflieht, sich auf Reisen begibt und die fehlenden Seiten in sich selbst entdeckt. In Geschichtsbüchern ist über die von ihm 1786 begonnene und zwei Jahre andauernde Reise nachzulesen: „Die Reise wurde für Goethe zu einem einschneidenden Erlebnis; er selbst sprach von einer „Wiedergeburt“, die er in Italien erfahren habe. An ihrem Ende hatte er sich selber wiedergefunden und beschlossen, seine Tätigkeit künftig auf das zu beschränken, was ihm seinem Wesen gemäß schien.“

In diesem Zitat finden sich zwei mit der Freimaurerei stark verwobene Faktoren wieder. Auch wenn insbesondere Gesellen zum Reisen in andere Logen ermutigt werden, so gibt es doch so etwas wie eine maurerische Heimat, jeder hat seine Bauhütte, in die er immer und immer wieder zurückkehrt.

Wandern in unserer Bedeutung betrachtet, kann vielleicht als Kreisen verstanden werden, als Weitergehen und Wiederkommen zugleich. Einem Ort verhaftet zu bleiben, und doch ständig neue Blickwinkel einzunehmen. Die Summe der durch Bewegung gewonnenen Perspektiven und die Arbeit an uns selbst sind ein weiterer mächtiger Anknüpfungspunkt zu dem, was uns so einzigartig macht: die Überzeugung und das Wissen, dass unsere Grundideale Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Toleranz und Humanität unverrückbare Elemente für den Bau an einer besseren Welt sind.

Reisen durch unsere Wertesysteme

Schon Franz Kafka formulierte „Wege entstehen dadurch, dass man sie geht.“ Ob er ein Bruder von uns gewesen ist, dafür gibt es keine mir bekannte Überlieferung. Als Bild in die Realität projiziert, hat diese Aussage schon etwas Bedeutsames: Wer kennt nicht diese Wege, die in Wäldern, neben Flüssen oder auf Wiesen entstanden sind, weil irgendwann irgendwer den ersten Schritt gesetzt hat? Und dann sind oftmals diesem anfangs kleinen Pfad viele Personen gefolgt, und es entstand ein Weg. Der Mensch überlegt, sucht Ziele, setzt sich in Bewegung. Die Wanderung bringt Eindrücke, Erlebnisse, Geschichten, Sichtweisen. Alles Bezugspunkte, die als Basis für neue Perspektiven dienen.

Und während in der Antike die Wallfahrten vermutlich die ersten echten Reisen gewesen sind, wurden die gegangenen Wege im Mittelalter das größte Kapital für Kaufleute. Es war die Gelehrtheit über „Weg und Steg“, wie in dieser Zeit das Wissen darüber, welche Wege genutzt und an welchen Stellen Flüsse überquert werden konnten, bezeichnet wurde. Das war eine früh überlieferte ökonomische Dimension des Wanderns. Eine produktive Erkenntnis in Form von entstehendem Wissen brachte schon die Zeit um Aristoteles, wo er und andere Gelehrte im Peripatos, der Wanderhalle umhergingen. Auf die Jetztzeit übertragen haben sich viele der ersten Erfahrungen mit dem Reisen nicht geändert.

Stand nicht fernab von der Form der Fortbewegung schon immer im Mittelpunkt, neue Wege zu beschreiten, um vorhandene Standpunkte zu überprüfen, und diese gegebenenfalls für die Zukunft zu adaptieren? Jede Zeichnung, die wir hier oder an anderen Orten unserer Gemeinschaft hören, vorgetragen bekommen, sind nichts anderes als Reisen durch unser eigenes Wertesystem. Wir bekommen Impulse, die wir zuerst für uns aufnehmen, um sie dann in der Gruppe zu besprechen und um dann vielleicht einen eingeschlagenen Weg zu revidieren.

Ist im profanen Leben den Menschen nicht eine besondere Dimension der Betrachtung von Reisen abhanden gekommen? Eine Form, die eine unverrückbare Basis unserer Kultur ist, die des persönlichen Gesprächs. Heute bedeutet für viele Menschen das Reisen eine beliebige Form der Mobilität. Der erlebte Moment ist dann vorbei, wenn er den Weg von der Digitalkamera oder dem Smartphone in die sozialen Netze wie Facebook oder Twitter gefunden hat. Die Nachbetrachtungen sind verloren gegangen.

Die gemeinsamen Diaabende beispielsweise, wo Erlebtes noch einmal gezeigt, besprochen und diskutiert wurde, finden wohl kaum mehr statt. Was bleibt, ist in vielen Fällen eine Sinnentleerung und nur scheinbar oberflächlich Erlebtes, ohne es je wirklich erlebt zu haben. Sind unsere freimaurerischen Reisen nicht die letzten Wanderungen, die ohne Konsumzwang dem Menschen neue Dimensionen eröffnen können?

Gemeinsame Ziele brauchen gemeinsame Emotionen

Wenn Menschen auf Reisen gehen, dann suchen sie nicht nur Erkenntnis, sondern auch nach Beziehungen. Neben der geistigen Dimension ist das der Kitt, der eine Gesellschaft, eine Gruppe zusammenhält. Man stelle sich Arbeiten von und mit uns Brüdern vor, wenn es keine emotionale Komponente gäbe, wenn wir in unseren Tempeln im Stile von Technokraten agieren würden. Gemeinsame Ziele brauchen gemeinsame Emotionen!

Unsere Kette ist weltumspannend, sie ist von unterschiedlichsten Individuen getragen und sicherlich kontroversiell in Debatten. Aber es gibt ein gemeinsames Korsett an Werten, die alle Brüder anerkennen und auch versuchen zu leben. Und daher kann man, egal wo auf der Welt, bei einem Tempel anklopfen und dort auf Menschen treffen, die über geografische Grenzen hinweg die Globalisierung einer großen Idee in Form gemeinsamer Bestimmungen schon seit Jahrhunderten leben. Und zu wissen, man ist nicht alleine, lässt uns beruhigt auf Wanderschaft gehen. Wer von anderen Reisenden, egal ob beispielsweise Urlaubsreisende oder Handelsreisende, haben das Privileg, ohne Anlaufzeit Menschen auf irgendwelchen Plätzen dieser Erde kennen zu lernen, sich sehr persönlich zu begegnen und zu wissen, dass die geführten Gespräche einem gemeinsamen Ziel untergeordnet und vom Siegel des Vertrauens umklammert werden? Diese Möglichkeit sollte viel öfter genutzt werden.

Im Text zur Instruktion über die symbolischen Reisen in der Freimaurerei unser Loge habe ich das wunderbare Zitat von Viktor Hugo gefunden, der einmal schrieb „dass das Reisen bedeute, jeden Augenblick zu sterben und jeden Augenblick geboren zu werden.“ Neue Wege bedeuten mitunter auch Gefahren, das weiß jeder von uns. Dem Unbekannten haftet immer ein Mehr an Risiko an als dem Vertrauten. Die erste Reise, die jeder Bruder durchlaufen muss, wenn er die Königliche Kunst erlernen möchte, ist der Beginn einer Wanderung. Was wäre uns allen entgangen, wenn wir nicht dieses Wagnis auf uns genommen hätten, einen uns unbekannten Pfad zu beschreiten. Und nun, wo aus der Distanz der Beginn des Anfangs betrachtet werden kann, erscheint es uns wie eine Selbstverständlichkeit.

Leben in wachsenden Ringen
Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.

Rainer Maria Rilke, wo vermutet wird, dass er ein Bruder gewesen ist, schrieb 1899 dieses Gedicht. Das Wesen unsers lebenslangen Wanderns ist die Veränderung, der Wandel. Es wird weder im profanen, noch im maurerischen Leben jedes Ziel zu erreichen sein. Der Mensch ist gekennzeichnet von Bewegung und selbst wenn er zum Ausgangspunkt zurückkehrt, wird er eine andere von Erfahrungen getragene Persönlichkeit sein. Die Reisen in unserem Sinne verstanden führen zum Licht, das die möglichen Gegenstände der Erkenntnis sichtbarer machen kann. Vielleicht sind es auch nur Träume, die dadurch ein wenig mehr Gestalt bekommen, möglicherweise sind es konkrete Vorhaben.

In seiner Grundausrichtung strebt der Mensch nach Glück, so meine persönliche Wahrnehmung. Wanderungen im realen Leben können Teil dieses Strebens sein, eine Kompensation dessen, die eine Person an ihrem momentanen Aufenthaltsort nicht vorfindet. In unserer Welt der Brüderlichkeit sollten uns Wanderungen reifen lassen, uns der Vollkommenheit ein kleines Stück näher bringen und unsere Grundideale der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Toleranz und Humanität gedeihen lassen.

Geht hinaus in die Welt und bewährt euch als Freimaurer

Optionen des Politischen in der Freimaurerei am Beispiel Frankreichs und Belgiens

Dieter Ney

„Geht hinaus in die Welt und bewährt euch als Freimaurer“, heißt es im Ritual der Großloge AFAMvD, und „Wie hier durch das Wort, so draußen durch die Tat“ heißt es noch markanter im Ritual der Großloge von Österreich; der Anspruch der Freimaurerei, in die Gesellschaft zu wirken, scheint vor dem Hintergrund solcher Aussagen evident.

Dennoch bleibt die Freimaurerei bei gesellschaftlichen Fragen stumm, öffentliche Positionen zu Fragen, die nicht unmittelbar sie selbst betreffen, werden praktisch nie bezogen. Dies hat Gründe, die durchaus mit dem Wesen der Freimaurerei zu tun haben, aber diese Konsequenz ist nicht notwendig, wie es einige Großlogen im Ausland beweisen.

Es gibt Freimaurerkulturen, die sich in vielerlei Hinsicht unterscheiden. Grund genug, diese Unterschiede am Beispiel des politischen Engagements der verschiedenen Freimaurereien in den Blick zu nehmen. Auf die Loge Kosmos mit ihrer internationalen und multikulturellen Prägung haben diese Unterschiede einen greifbaren Einfluss.

Konstitutive Heterogenität

Einer der Leitideen der Freimaurerei besteht in ihrem Anspruch, Menschen zusammen zu bringen, die sich sonst nicht begegnet wären. Bedenkt man, wie sich Gruppen normalerweise bilden (durch familiäre Nähe, gemeinsame Interessen oder funktionale Bezogenheit), dann impliziert der Anspruch der Freimaurerei eine gewisse unvermittelte Heterogenität innerhalb der Gruppe. Wenn dem so ist, dann ist zu erwarten, dass die Freimaurerei Regeln des Umgangs vorgeben muss, die das Zusammensein trotz dieser für die Gruppe konstitutiven Heterogenität ermöglicht und sichert.

Die prominenteste Regel, die sich in den Old Charges von James Anderson findet, erlegt den Brüdern auf, religiöse und politische Themen in den Gesprächen zu vermeiden. Unbestritten ist, dass diese Regel ihren historischen Hintergrund in den dramatischen politischen und religiösen Auseinandersetzungen im England der Entstehungszeit der Freimaurerei hat. So erscheint sie als Gebot der Klugheit zur Wiederherstellung einer zerrütteten Gesellschaft, die im Rahmen einer kleinen Gruppe, der Gemeinschaft in der Loge, eingeübt wird.

Zugleich erscheint es illusorisch, dass man mit einer im Kern negativen, nämlich verbietenden Regel ein positives befriedigendes Gemeinschaftsgefühl erschaffen kann. Die moderne Ritualforschung legt es nahe, dass es das Ritual ist, mit dessen Hilfe eine Gemeinschaft geschaffen werden kann, deren Mitglieder nicht über gemeinsame Interessen verfügen. Dies gelingt dem Ritual dadurch, dass es einen gemeinsamen Handlungsverlauf bestimmt, nicht aber gemeinsame Inhalte; an die Stelle von Orthodoxie tritt Orthopraxis. Diese integrierende Funktion hat auch das freimaurerische Ritual. Seine Wirkung wird noch dadurch verstärkt, dass es gegenüber Außenstehenden geheim gehalten wird; Abgrenzung gegenüber anderen ist ein mächtiges Mittel zur Gemeinschaftsbildung.

Die vor ihrem historischen Hintergrund verstehbaren Alten Pflichten von James Anderson scheinen die Freimaurerei zur politischen Sprachlosigkeit zu verurteilen

Die Freimaurerei als eine Gemeinschaft Ungleichgesinnter besteht zwar nicht nur aus rituellen Vollzügen, diese bestimmen aber die Umgangsweisen der freimaurerischen Brüder und Schwestern außerhalb des Rituals. Der Philosoph und Freimaurer Klaus Hammacher spricht hier in treffender Weise von einer Einübungsethik: Durch die im Ritual stetig wiederholte Einübung exemplarischer Verhaltensweisen bildet sich ein Habitus (als verfestigte Haltung), der dann auch außerhalb des Rituals zum Tragen kommt.

Eine solche Einübungsethik verdankt sich nicht vorgängigen theoretischen Werten, Idealen oder Weltanschauungen, sondern einer Praxis, deren Interpretation – zumindest in der Freimaurerei – dem Einzelnen aufgetragen ist. Die Grundwerte der Freimaurerei der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Toleranz und Humanität sollten vor dem geschilderten Hintergrund nicht in einem ideologischen Sinne verstanden werden, denn sie sind nicht Ausfluss einer umfassenden und ausgearbeiteten Theorie. Sie werden entsprechend unter Freimaurern sehr unterschiedlich gedeutet.

Die politische Sprachlosigkeit der Freimaurerei

Dies reduziert die politische Schlagkraft der Freimaurerei beträchtlich; ihr fällt es schon schwer, mit verbindlichen Inhalten nach außen aufzutreten, was sich sehr schnell nach einem Blick auf die Internetseiten der Großlogen zeigt, die ja die Mitgliedslogen nach außen vertreten sollen. Es ist ein nicht zu unterschätzendes Dilemma für jede Öffentlichkeitsarbeit der Freimaurerei, dass sie 1. die verbindliche Quelle – das Ritual – aus Gründen der Geheimhaltung nicht aufdecken kann, 2. die Wirkung des Rituals – weil es eine auf stetige Wiederholung angewiesene Praxis ist – nicht plausibel vermitteln kann, und 3. konkrete Positionen nur auf Basis der eher vage bestimmten Grundideale Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Toleranz und Humanität beziehen kann.

Unbestritten ist die Freimaurerei ein Ort politischer Meinungsbildung, aber sie nicht ausgerichtet auf eine Position, die gemeinsam nach außen vertreten werden könnte. Die Zurückhaltung von freimaurerischen Institutionen im politischen Diskurs erklärt sich deshalb nicht durch das Verbot politischer und religiöser Diskussionen in den Andersonschen Alten Pflichten, sondern durch den Wert, der der individuellen Meinungsbildung in Freimaurerei unhintergehbar zukommt.

Es scheint so, dass der Freimaurerei gesellschaftliche Wirksamkeit lediglich über das Wirken freimaurerischer Individuen zukommt, die ihre Positionen nicht als Freimaurer, sondern innerhalb anderer „pressure groups“ vortragen, z.B. als Mitglied einer politischen Partei oder NGO. Die von diesen Individuen vertretenen Positionen können, obgleich sie alle Freimaurer sind, sehr verschieden sein, können sich sogar widersprechen.

Der französische Sonderweg

Ist damit das letzte Wort gesprochen? Nein, denn historisch haben sich „Freimaurereien“ entwickelt, deren Stimme durchaus auf dem Meinungsmarktplatz hörbar und deren politischer Einfluss sogar politisch sichtbar ist. Ein besonders bekanntes Beispiel ist die größte Obödienz Frankreichs, der Grand Orient de France (GOdF), die sich regelmäßig zu Themen äußert, die weit über die Freimaurerei in einem engen Sinn hinausgehen.

Darüber hinaus berichtet die Presse regelmäßig über tatsächliche oder vermeintliche freimaurerische Netzwerke, die ihre politischen Interessen durchzusetzen verstehen, eine These, der eine gewisse Glaubwürdigkeit verliehen wird, dass praktisch in jeder französischen Regierung nachweislich Freimaurer zu finden sind bzw. Freimaurer in den politischen Institutionen anteilsmäßig deutlich stärker vertreten sind als dies die Relation der Mitgliedszahlen in Bezug auf die Gesamtbevölkerung vermuten lassen könnte.

Die prominente Rolle, die die Freimaurerei in allen möglichen Verschwörungstheorien spielt, mag hier ihren Grund haben. Die „politisierte“ französische Variante der Freimaurerei, die sich als adogmatisch und liberal versteht, ist ein Ergebnis eines historischen Prozesses mit vielen kulturellen Abhängigkeiten; so erstaunt nicht, dass sie innerhalb der weltweiten Freimaurerei die Sonderrolle einer kleinen Minderheit spielt und darin weitestgehend auf den französisch-sprachigen Raum beschränkt ist. Blickt man von Deutschland aus auf dieses Phänomen, dann kann man nur staunen, mit welchem Selbstbewusstsein die Freimaurerei dort ihren Platz in der Gesellschaft einnimmt. Ein besonders drastisches Beispiel hierfür ist die Tatsache, dass praktisch alle französischen Präsidentschaftskandidaten vor der Wahl ihre Positionen im großen Tempel des GOdF in einer nur für freimaurerische Besucher offenen Veranstaltung vorstellen und sich anschließend der Diskussion stellen.

Der französische Sonderweg einer politisierten Freimaurerei ist Ergebnis einer sehr spezifischen historischen Entwicklung der letzten hundert Jahre, davor war sie weitestgehend loyalistisch auf Seiten des politischen Establishment.


Es ist ein gern erzählter Mythos, diese sehr offensive Haltung der französischen Freimaurerei verdanke sich der (angeblichen) Tatsache, dass sie seit ihren Anfängen in Frankreich stets in Opposition zur Herrschaft stand, ganz anders als die englische Freimaurerei, die bis heute eine große Nähe zum Königshaus pflegt.

Hierbei wird übersehen, dass die Freimaurerei eigentlich erst seit ca. 100 Jahren diese sehr präsente politische Rolle in Frankreich einnimmt. Das kritisch-oppositionelle, gar rebellische Profil, das man dem GOdF gerne anheftet und das angesichts der vielen prominenten freimaurerischen Anhänger der Französischen Revolution an Evidenz gewinnt, wird gleichwohl von der Tatsache relativiert, dass die Freimaurerei in der Zeit Napoleons loyalistisch auf Seiten des Kaisers und des politischen Establishments stand.

Als rebellisch gilt der GOdF zu Recht darin, dass er sich in mehrfacher Hinsicht von innerfreimaurerischen Positionen der United Grand Lodge of England (UGLE) abgesetzt hat, so in der Frage, ob der religiöse Glaube eine Voraussetzung für die Mitgliedschaft in der Freimaurerei ist (was der GOdF seit 1877, dem Grand Orient de Belgique darin nachfolgend, entschieden verneint); mit dem Resultat, dass der GOdF aus dem gegenseitige Besuchsrechte garantierenden Anerkennungsverbund unter Führung der UGLE entlassen wurde.

Insgesamt erscheint er vielen Beobachtern als die glaubwürdigere Variante der Freimaurerei, soweit man letztere als Kind der Aufklärung versteht, glaubwürdiger deshalb, weil hier das aufklärerische Denken Vorrang hat vor der Traditionspflege, die in der englischen Freimaurerei prädominant zu sein scheint. Zeitgemäßer erscheint der GOdF aufgrund seiner Relativierung des Verbotes politischer und religiöser Themen, seiner kritischen Distanz zur Religion und seines Eintretens für die strikte Trennung von Staat und Kirche (Laizismus), befremdlich hingegen erscheint er aus deutscher Perspektive aufgrund seiner gelegentlich aggressiv antiklerikalen Positionen.

Verdienste und Skandale

In politischer Dimension ist die Liste der freimaurerischen Beiträge sehr beeindruckend: die erste landesweit organisierte politische Partei Frankreichs, die Parti radical von 1901, war zutiefst freimaurerisch geprägt, große reformerische Gesetzesinitiativen gingen auf freimaurerische Politiker zurück, so die Einführung der Schulpflicht, der Rückbau kolonialistischer Aktivitäten, das Gesetz über die strikte Trennung von Staat und Kirche, die Einführung der Einkommenssteuer, die Regulierung der Kinder- und Frauenarbeit, ein liberales Abtreibungsgesetz und vieles mehr. Insbesondere in der Dritten Republik war ein großer (wenn nicht sogar der größere) Teil des Parlaments freimaurerisch geprägt, und es gab das Gerücht, das so manches Gesetz im Hauptsitz des GOdF formuliert wurde.

Dass die Freimaurerei geradezu „übergriffig“ wurde, wird an der so genannten „Affaire des Fiches“ (in der Folge der Dreyfus-Affäre zu Beginn des 20. Jahrhunderts) deutlich, in der die Politik auf die lokal gut vernetzten Freimaurerlogen zurückgriff, um die politische Gesinnung von Militärangehörigen auszukundschaften, dies mit der Absicht, republikanisch gesonnene Militärs bevorzugt zu befördern und damit den bis dahin in Militärkreisen dominanten royalistisch und katholischen Einfluss zu brechen.

Tatsache ist, dass weite Teile dessen, was man in Frankreich mit dem Begriff der Republik assoziiert, stark von politischen Auffassungen geprägt ist, die von freimaurerischen Politikern vertreten wurden. Umgekehrt ist ein deutscher Besucher erstaunt, in den Tempeln des GOdF so viele republikanische Symbole zu finden, zuvorderst die dort wohl unvermeidliche „Marianne“. Ebenso imposant, wenn auch weltgeschichtlich nicht ganz so relevant, ist die Liste der Skandale im Umfeld der französischen Freimaurerei. Klüngelwesen und Geschäftemacherei konnten bei einer so einflussreichen Institution nicht ausbleiben.

Es sind eher diese Skandale, in Kombination mit allerlei Verschwörungstheorien, die die heutige Berichterstattung über die Freimaurerei in Frankreich prägen.

Und Belgien?

Vielen Deutschen ist Belgien fremd; das Land nimmt man fast nur in Verbindung mit europäischen Institutionen wahr, gelegentlich nimmt man die nicht enden wollenden Streitereien zwischen den offenbar unversöhnlichen Landesteilen zur Kenntnis, manchmal dramatische Ereignisse im Umfeld des Königshofes. Dabei wird die historische Bedeutung dieses für europäische Verhältnisse sehr jungen Staates stark unterschätzt – er war in Zeiten der Industrialisierung zusammen mit England Avantgarde und besaß nach seiner Gründung die wohl fortschrittlichste Verfassung seiner Zeit. Die Offenheit für neue und moderne Ideen suchte ihresgleichen.

Zum Zeitpunkt der Gründung Belgiens war die Aufklärung schon ein alter Hut, und anders als in Frankreich musste man republikanische Ideen nicht so mühsam gegen eine lange royalistische und katholische Tradition durchsetzen, zu überzeugend war der wirtschaftliche Erfolg der Moderne. In einem solchen Klima konnte auch die Freimaurerei gut gedeihen. Schon der Beginn des Staates schuf ideale Bedingungen, war doch der erste König, Leopold I., ein protestantischer Freimaurer, der das belgische freimaurerische Leben effizient, aber auch sehr diskret förderte – er selbst verzichtete mit Übernahme des Königstitel auf freimaurerische Aktivitäten.

Dass es gleichwohl immer wieder Konflikte zwischen der katholischen Kirche und freimaurerischen Kreisen gibt, das zeigt sich u.a. in den kuriosen Umständen der Beisetzung des ersten Regenten. Die königliche Gruft, die der Beisetzung dienen sollte, lag unter dem Chor einer katholischen Kathedrale. Da Leopold I. Protestant und Freimaurer war (es sei dahingestellt, was hier dramatischer ist), wurde dem Trauerzug verwehrt, durch die Kirche zu ziehen, stattdessen musste ein äußerer Zugang zur Krypta durch einen Mauerdurchbruch geschaffen, durch den der Leichnam des Königs in die Gruft verbracht wurde.

In ihrer großen Zeit erscheint die belgische Freimaurerei wie die beschleunigte Variante der französischen. In der Politik ebenso wie in der Kunst stellt sie die Avangarde.

Der Einfluss der Freimaurerei auf politischer und gesellschaftlicher Ebene war in Belgien noch schneller als in Frankreich spürbar, man kann fast sagen, dass es kein anderes europäisches Land gab, in dem die Freimaurerei in Gesellschaft, aber auch in der Kultur, so bestimmend wurde. Der Artikel in den Konstitutionen des Grand Orient de Belgique, der das Verbot von politischen und religiösen Diskussionen enthielt, wurde einfachhin abgeschafft (sehr zum Ärger der englischen Großloge, die daraufhin die freundschaftlichen Beziehungen zwar nicht unterbrach, aber zumindest aussetzte).

Sogar, was die Frage der Religiosität als Bedingung für die Aufnahme in den Freimaurerbund betraf, war der Grand Orient de Belgique schneller als die Brüder des Grand Orient de France; er schuf 1872 ab, also fünf Jahre früher. Die Trennung von Staat und Kirche war ohnehin schon (zumindest theoretisch) in der belgischen Verfassung von 1830 festgelegt (in Frankreich hat sie nur Gesetzesrang im Gesetz von 1905), und auch eine Partei, die von freimaurerischem Gedankengut durchsetzt war, wurde in Form der Parti liberale viel früher als die französische Parti radicale gegründet.

Die Gruppe freimaurerischer Abgeordneten im Parlament war zeitweise dominant, gesellschaftliche Großprojekte wurden in Freimaurerlogen initiiert, so die Gründung der Freien Universität Brüssel (1834, ganz freimaurerisch wurden alle Studenten bei der Einschreibung auf die Werte der Wissenschaftlichkeit und der absoluten Gewissensfreiheit verpflichtet, wohingegen den Studenten der Katholischen Universität Löwen noch ein GlaubensbeGlaubensbekenntnis abverlangt wurde), der Kampf gegen die Dominanz der katholischen Kirche im Bildungswesen und die Einführung des allgemeinen Wahlrechts, letzteres mit dem Effekt, dass die Parti liberale im politischen Spektrum ab diesem Zeitpunkt keine große Rolle mehr spielte, weil die nun wahlberechtigten Arbeiter in der Mehrheit für die Sozialisten stimmten, was die Parti radicale in Frankreich wohl ahnte und klugerweise gegen das allgemeine Wahlrecht stimmen ließ, honi soit qui mal y pense …

Die große Zeit der Freimaurerei nach der belgischen Staatsgründung zeigt sich nicht nur auf politischer Ebene, sondern auch im Bereich der Kunst, interessanter Weise auch hier in stärkerer Weise als in Frankreich. Charles de Coster hat mit seiner Version des Eulenspiegel, die er in die Zeit der flämischen Achtzigjährigen Kriege verlegte, geradezu einen freimaurerischen Schlüsselroman geschrieben. Der Architekt Victor Horta pflegte einen sehr bürgerlichen Art deco-Stil, dessen Höhepunkt – nicht untypisch – die Gestaltung des Gewerkschaftshauses in Brüssel war. Der Freimaurer und Friedensnobelpreisträger Henri La Fontaine schuf zusammen mit Paul Otlet die Idee einer universellen Wissenssammlung in konkreter Gestalt des Mundaneum, die beiden als notwendige Voraussetzung für einen globalen Frieden galt.

Viele Künstler im Umfeld der Gruppe La Jeune Belgique waren Freimaurer, so Félicien Rops, Fernand Khnopff, Maurice Maeterlinck, oder Neo-Rosenkreuzer (die im französischen Sprachraum eine große Nähe zur Freimaurerei pflegten) wie Emile Verhaeren und Georges Rodenbach (dessen Vater ein bedeutender Freimaurer und Mitbegründer des belgischen Staates war).

Sie alle einte eine kritische Haltung gegenüber der katholischen Bürgerlichkeit Belgiens mit ihrer restriktiven Moral, und noch heute lassen sich Spuren dieser großen belgischen Kulturepoche im modernen Belgien wiederfinden. Selten hat die Freimaurerei eine vergleichbare kulturelle Schlagkraft entwickelt wie im Belgien des 19. Jahrhunderts.

Dämpfende Regularität

In Belgien ebenso wie in Frankreich bildeten sich innerhalb der Freimaurerei Gruppen, die nach dem Verlust der Anerkennung durch die United Grand Lodge of England eine Reintegration in die reguläre Weltfreimaurerei anstrebten, denn nur auf Basis einer solchen Anerkennung gewährte man den französischen und belgischen Brüdern Besuchsrechte in den Logen den „englischen Bruderkette“.

Der zu zahlende Preis war hoch, denn man hatte Prinzipien zu akzeptieren, von denen man sich in der geschichtlichen Entwicklung in Frankreich und Belgien in einem mühsamen Kampf entfernt hatte und der weitestgehend die freimaurerische Identität der belgischen und französischen Brüder ausmachte: politische Enthaltsamkeit und der Glaube an ein religiöses Prinzip als Voraussetzung für die Mitgliedschaft. So erstaunt es nicht, dass die ersten freimaurerischen Institutionen, die die Anerkennung erhielten, personell stark von Engländern geprägt waren, die eben nicht eine belgische oder französische freimaurerische Sozialisierung durchlaufen hatten.

Träger dieser „englischen“ Bewegung waren die Brüder, die die Grande Loge de France und die Grande Loge de Belgique gründeten. Es sollte nicht die letzte Spaltung sein; neben persönlichen Eitelkeiten und schlechter Governance war gerade das Bestreben nach Integration in die englische Brüderkette über lange Zeit der Hauptanlass für diverse Neugründungen von Großlogen in Belgien und Frankreich.

Über lange Zeit war es eine Minderheit, die bereit war, den hohen Preis für die „Regularität“ zu bezahlen. Die von England anerkannte Grande Loge nationale française entwickelte sich erst in den letzten zehn Jahren unter dem Einfluss einer durchaus umstrittenen Rekrutierungspraxis des Großmeisters Stifani zu einer zahlenmäßig nennenswerten Obödienz, kam aber gerade unter diesem Großmeister auch ins Stolpern; diverse interne Konflikte führten zu einer ZerrüttungZerrüttung, die letztendlich eine Auflösung der freundschaftlichen Beziehung zu vielen europäischen Großlogen zur Folge hatte; die Aberkennung der Anerkennung durch die United Grand Lodge of England im Jahr 2012 war nur der letzte Schritt in einer langen Entwicklung. In Belgien hat die „reguläre“ Freimaurerei bis heute zahlenmäßig nur eine marginale Bedeutung.

Die freimaurerische politische Verantwortung heute

Es wäre falsch, die Freimaurerei als Meinungsbildungsinstanz zu verstehen, zumindest auf den ersten Blick. Als Gruppe tritt die Freimaurerei heute nur in Ausnahmefällen an die Öffentlichkeit, um eine „Meinung“ zu vertreten, aber in einer anderen Hinsicht ist sie durchaus meinungsbildend, nämlich für den Einzelnen in der Loge, der in einem sozial heterogenen Raum mit den Perspektiven anderer Menschen konfrontiert ist.

Ein Blick auf die belgische und französische Freimaurerei sensibilisiert uns darüber hinaus für Themen, die nicht nur in Frankreich und Belgien den leitenden Ideen der Freimaurerei besonders nahe stehen: Demokratie, Gleichberechtigung, Bildung, soziale Gerechtigkeit, Minderheitenschutz. All diese Werte lassen sich aus der rituellen Praxis erschließen und es erstaunt schon ein wenig, wie sehr sich zum Beispiel die deutsche Freimaurerei aus dem gesellschaftlichen Diskurs heraushält. Zwar sind diese klassischen freimaurerischen Themen im modernen Rechtsstaat auf fundamentaler Ebene schon umgesetzt, aber die Defizite auf der praktisch-politischen Ebene sind für alle nicht erst seit der Finanzkrise sichtbar; Grund genug, hier sensibel zu bleiben und gelegentlich die Stimme zu erheben.

Dass es in diesen Ländern aufgrund ihrer kulturellen und geschichtlichen Bedingungen auch Themen gibt, die man außerhalb von Frankreich und Belgien nur teilweise als freimaurerisch empfinden wird, ist offensichtlich – man denkt dabei wohl vor allem an den Laizismus, der in beiden Ländern auf schon fast unauflösliche Weise mit der Freimaurerei verbunden ist und oft einen stark antiklerikalen Zug trägt.

Für den außenstehenden Betrachter erscheint es in den durch den Laizismus befeuerten Debatten nicht selten eher um Machtfragen als um Werte zu gehen. Dort allerdings, wo man die Haltung der Kirchen wie in den Skandalen der letzten Zeit als übergriffig wahrnimmt, wird aber die Sympathie für den Laizismus zunehmen. Aber es bleibt eine spürbare kulturelle Differenz. Das zeigt ein aktuelles Thema von politischer Bedeutung, das insbesondere in der belgischen und französischen Freimaurerei von hoher Diskussionvirulenz ist, nämlich der Umgang mit dem Islam.

Vordergründig wird dieses Thema unter einem laizistischen Aspekt behandelt, aber schon der berühmte Streit um das Kopftuch zeigt, dass es hier um mehr geht, nämlich um die Bewahrung eines „republikanischen“ Raumes, der von allen religiösen Einflüssen frei gehalten, der in seiner Reinheit als Ausgangspunkt des Politischen bewahrt werden soll – eine sehr französische Vorstellung.

Der deutsche Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde brachte in seinem berühmten Diktum das vom französischen Modell abweichende deutsche Konzept auf den Punkt: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann … Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt, mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren versuchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben“. So verweist der Staat notwendig auf die moralischen Überzeugungen der Bürger, die sich zwar nicht notwendig, aber zuweilen auf der Basis einer religiösen Haltung gebildet haben.

Damit bekommen religiöse Überzeugungen zwar nicht den Rang von Argumenten im politischen Diskurs, aber ihr Einfluss wird anerkannt und nicht zurückgedrängt. Praktisch greifbar wird diese Konzeption bei der Besetzung des ehemaligen Nationalen Ethiksrates bzw. des aktuellen Deutschen Ethikrates, in dem auch Vertreter der Kirchen und anderer Religiongsgemeinschaften sitzen – ein für den französischen Beobachter sehr erstaunliches Faktum, vor allem, wenn man bedenkt, welche große Bedeutung der Ethikrat mittlerweile bei der politischen Meinungsbildung in Deutschland hat.

Diese kulturelle Differenz zwischen dem Republikanismus auf der einen Seite und dem deutschen Rechtsstaatsverständnis auf der anderen Seite sollte kritisch bedacht werden, wenn man sich auf die politischen Meinnungsäußerungen des GOdF bezieht, denn er identifiziert sich weitestgehend mit dem Republikanismus.

Wer erinnert sich nicht an die kuriose Situation, in der sich vor einiger Zeit Belgien befand: Das Land lebte 540 Tage ohne reguläre Regierung. Erst Elio Di Rupo, Mitglied der sozialistischen Partei und bekennendes Mitglied des Grand Orient de Belgique, gelang es, eine Koalitionsregierung zu bilden. Maßgeblich für den Erfolg war, dass er anders als seine Vorgänger seine Kompromissvorschläge nicht in geheimen Koalitionsverhandlungen diskutieren ließ, sondern diese im Vorfeld über das Internet bekanntmachte.

Angesichts der nun für alle Interessierten sichtbaren Zugeständnisse an die politische Gegenseite, wurde letztere stark unter Druck gesetzt; eine Zurückweisung der Vorschläge wäre der Bevölkerung schwer vermittelbar gewesen. Mag sein, dass es sich dabei um ein ausgesprochen geschicktes strategisches Manöver gehandelt hat, für mich schimmert dort auch Freimaurerisches durch: Achtsamkeit für die Forderungen des Anderen, denen man durch tragbare Zugeständnisse entgegenkommt, die Förderung von Transparenz in einem dunklen, von Parteipolitik vernebelten Terrain und der pragmatische Wille, trotz konfligierender Interessen politische Handlungsfähigkeit wiederherzustellen.

Dieses Freimaurerische, das ich dort erkennen will, ist weniger ein konkreter politischer Inhalt als eine moralische Haltung, die konstruktive Kooperation befördern will – und in dieser Haltung sollten sich doch alle Freimaurer einig sein. Arbeit gibt es für uns Maurer genug in dieser von destruktiven Egoismen reichlich bewohnten Welt.

Siehe auch