Rezension: Erich Brüning: Die unterschätzte Subkultur

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Erich Brüning, Harry Graf: Die unterschätzte Subkultur: Freimaurerei

(2001)

Rezension von Dr. phil. Roland Müller

Erich Brüning, Harry Graf: Die unterschätzte Subkultur: Freimaurerei – Wolf im Schafspelz. Berneck: Schwengeler-Verlag 2001, 491 Seiten.

Das anti-freimaurerische Strickmuster

Das Strickmuster der anti-freimaurerischen Literatur ist immer dasselbe: eine raffinierte Mischung von Wahrheiten, Halbwahrheiten und phantasievollen Behauptungen. Basis ist einerseits ein hämischer bis bösartiger Unterton, anderseits ein Sammelsurium von offiziellen bis anti-freimaurerischen Quellen.

Drittens verkauft man Längstbekanntes als Enthüllungen, beispielsweise dass viele Philosophen und Dichter der Goethezeit (370-376) oder viele katholische Geistliche (398f) Freimaurer waren, oder „dass die Freimaurer kulturell, politisch, pädagogisch, naturwissenschaftlich und publizistisch ausserordentlich aktiv waren“ (433; ähnl. 14). Es soll „eine bessere Welt durch ein System der Humanität erreicht werden“ (14).

Zitiert wird nach Belieben

Zitiert wird nach Belieben. So gibt sich der Autor zeitweise sehr aktuell und benützt das Internet, z. B. die ausgezeichneten Website der Grossloge von British Columbia and Yukon. Doch ignoriert er deren Hinweise, dass Thomas Paine (294), John Wesley (11), Robert Baden-Powell (60) oder der Satansanbeter Aleister Crowly (232f) keine Freimaurer waren. Wenn auf der Website steht: „no proof of Pius IX’s masonic membership“, dann schreibt der Autor, die Mitgliedschaft „ist gesichert“ (399). Die Quellen, wonach auch Johannes XXIII. und Pius VI. Freimaurer waren, sind obskur.


Als Informant dafür, dass Thomas Jefferson (295), Graf Mirabeau (300) und Robespierre (300, 303), der Baron von Kottwitz (381f) sowie der Anarchist Alexander Herzen (311) und Ministerpräsident Clemenceau (326) Freimaurer waren, gilt dem Autor der berüchtigte Anti-Freimaurer Friedrich Wichtl (1919). Für die Darstellung der Rituale (243-283) stützt er sich auf die Schrift „Der Tempel der Freimaurer“ des abtrünnigen Freimaurers Konrad Lerich, das 1935 in Bern erschien.

Halbwahrheiten

Der Autor, Erich Brüning, gemäss Internetangaben Jahrgang 1921, war 23 Jahre lang Mitglied der Zeugen Jehovas, ist 1980 ausgestiegen und seither mit Schreiben gegen die Zeugen Jehovas und die Freimaurer beschäftigt. Gemäss Vorwort hat die Arbeit aber Harry Graf gemacht. Er stützte sich auf die Literatursammlung und Vorarbeiten von Brüning.

Schon die erste Textseite bietet Halbwahrheiten: von 94 „Freimaurern“ sind mindestens 17 keine, z. B. Napoléon I. (auch 54, 305), Heinrich Pestalozzi und Ytzhak Rabin (auch 388) oder Jean-Jacques Rousseau (auch 299) und „Joseph Kipling“. Später wird behauptet, Thomas Chalmers (61, 383), der Begründer der Evangelischen Allianz, und Paul Harris (62), der Gründer des Rotary-Clubs oder der Neuhumanist F. A. Wolf (196f) und Novalis (360) seien Freimaurer gewesen.

Die fast 500 Seiten strotzen vor Ungenauigkeit. „Bei der Einweihung durchlebt der Kandidat symbolisch Tod und Wiedergeburt“ (25, ähnl 215, 226ff), wichtige Symbole sind „Stier und Frau“ (49); die „Mutation vom Erdigen, Niedrigen zum Geistigen Höheren“ werde in den „Einweihungsriten in Zusammenhang mit der Legende des Hiram entsprechend umgesetzt“ (122), nach einem Jahr erfolge die „Erhebung“ zum Gesellen (253), usw.

„Eng mit der Freimaurerei verbunden“ seien unter anderem B'nai B'rith, Odd Fellows, AMORC und O.T.O., ja noch mehr: „Freimaurer waren unter anderem wesentlich an der Gründung und Entwicklung von Organisationen wie Völkerbund, UNO, EU, CVJM, Ökumene, Rotary, Lions, Kiwanis, Rotes Kreuz, usw. beteiligt“ (188; ähnl. 19, 23; zum Völkerbund 336-338, zum CVJM 385, zur ökumenischen Bewegung 385-389).

Auch die historischen Angaben sind nicht über alle Zweifel erhaben. Beispielsweise soll Adam ca. 4300 v. Chr. erschaffen worden sein (166), der Mithraskult soll bereits 1400 v. Chr. entstanden sein (96) und der Neuplatonismus im 5./6. Jahrhundert (117). Dass die Bauhütten Englands weitgehend die Ordnungen der deutschen Bauhütten übernahmen (153) ist unwahrscheinlich, ebenso dass das Bauen im Mittelalter „wie ein Gottesdienst“ war und jedes Werkzeug „neben der praktischen auch eine sakrale, vergeistigte Bedeutung“ hatte (157); der Geselle „durfte einen Hut und eine Hieb- oder Stichwaffe tragen“ (160).

Freimaurerei ist antichristlich und widergöttlich

Der grösste Vorwurf der religiösen Eiferer lautet: Die Freimaurer strebten über die Selbstveredelung zur Selbsterlösung. Das sei gegen das biblische Erlösungsmodell, wonach der Mensch ein Sünder sei - „Gott versöhnt ihn durch das Opfer von Jesus Christus“ (11; vgl. 405). Ja noch mehr, dieses Streben nach Vollkommenheit bringt die Freimaurerei in die Nähe Satans (232). Auch die vor allem in Skandinavien und Deutschland praktizierte sogenannte christliche Freimaurerei sei keinen Deut christlicher als die humanistische (275-183) – sie ist auch widergöttlich. Dabei ist Meister Eckart „für die christliche Freimaurerei von zentraler Bedeutung“ (357).

Im Verein mit der Selbstverbesserung des Menschen und dem weltweiten Einfluss auf die Geschichte der Welt (14) ergibt sich eine Wirkung weit über den Freimaurer-Bund hinaus: „Der grösste und subtilste Einfluss liegt aber in der Demontage echten christlichen Glaubens“ (14).

Freimaurerei ist revolutionär und subversiv

Brüning versucht zu beweisen, dass die Freimaurerei revolutionär und subversiv (278) sei. Daher beschreibt er genüsslich die - dürftig belegte - „Verflechtung“ der amerikanischen und französischen Revolution mit den Freimaurern (293-306): Hier „kam das Gedankengut der neuen freimaurerischen Weltordnung zum Vorschein“. Über die Revolutionen in Italien und Lateinamerika geht es zum Mord von Sarajewo am 28. Juni 1914 (55, 57, 324-335), wozu Friedrich Wichtl wieder ausgiebig zu Wort kommt. Es bestünden verschiedenen Hinweise, dass die Freimaurer an diesem Mord „beteiligt“ gewesen seien und „dieser Mord nur Teil eines grösseren Planes zur Umgestaltung Europas war“ (334).


Das Feindbild „Freimaurerei“ fasziniert den Autor so sehr, dass er über 100 Seiten kulturellen Erscheinungen widmet, die nur sehr entfernt mit Freimaurerei zu tun haben, etwa der Sündenfall im Paradies und der Heilige Gral (64-89) oder die frühen Mysterienkulte (90-101). Im Rahmen der Tempelritter wird der Mystiker Bernhard von Clairvaux, der um 1130 lebte, als „ein Beispiel freimaurerischen Denkens“ (108; vgl. 356f) vorgeführt. Dann folgen die Neuplatoniker und Mystiker, Alchemisten und Rosenkreuzer (117-148).

In Zusammenhang mit den mittelalterlichen Steinmetzen und Bauhütten wird die Hiramslegende (154f) aufgetischt. Der Baumeister Hiram „ist ein Bild für die Vermischung von Gottes Volk und Heidentum“, während König Hiram „ein diesseitiges Bild ist auf den Teufel“ (239). Richtiggehend festgebissen hat sich Brüning am „initiatischen Geheimnis der Freimaurerei“ (71-101, 214-240).

Den Abschluss des Buches bildet die Frage nach dem „richtigen“ Christentum, wobei die Manichäer und erneut die Mystiker behandelt werden. Die Qäker haben dieselben Grundprinzipien wie die Freimaurer (362); Oliver Cromwells Handeln „deckt sich mit der freimaurerischen Ansicht der Gewissens- und Religionsfreiheit“ (378). Wie tendenziös Brüning formuliert, erhellt aus folgendem Satz über Friedrich den Grossen: „Trotz seiner freimaurerischen Haltung tolerierte er das Wirken der Christen und stellte es unter seinen Schutz“ (380f).

Sorgfältig vermeidet es Brüning, genau zu beschreiben, was in seinen Augen das „richtige“ Christentum ist oder welcher religiösen Richtung er angehört.

Veralteter Text, ungenaue Internetlinks und Personenangaben

Neuere Literatur, die ausgiebig zitiert wird, stammt von den Italienern Giuliano di Bernardo und Luigi Ranieri, dem Deutschen Klaus Preiss, dem Österreicher Hans Biedermann und dem Franzosen Bernard Vaillant.

Abgesehen davon und von der Erwähnung von Licio Gelli auf einer Nameliste (9), einigen Zeilen über die „Pan-Europa“-Bewegung (338-340) und längeren Erörterungen am Schluss des Buches über die ökumenische Bewegung, die modernen Christen und die heutigen Kirchen (385-404) hätte das ganze „Werk“ bereits vor 70 Jahren geschrieben worden sein können.

Zwar werden auf 7 Seiten unzählige Internetlinks aufgeführt, doch für den Inhalt des Buches wurden sie fast nicht benützt. Manche sind brauchbar, viele falsch geschrieben oder nicht mehr aktiv. Die Website der Vereinigten Grosslogen von Deutschland fehlt, ebenso „www.freimaurer.ch“ oder die ausgezeichnete „masonicinfo.com“.

Die Idee, in einem Anhang rund 700 Freimaurer-Persönlichkeiten nach Ländern und jeweils chronologisch zusammenzustellen, ist gut. Leider enthält das mit viel Fleiss zusammengetragene 60seitige Verzeichnis viele fragliche oder Nicht-Freimaurer, darunter Juan Perón (Argentinien) und Husain II. (Jordanien), Friedrich Schiller und Richard Wagner oder Baron Shaftesbury (der bereits 1713 verstarb) und Charles Dickens oder Heinrich Pestalozzi und Rudolf Steiner, Sitting Bull oder Oskar Tschirsky (hiess Tschirky und war Schweizer). Zudem sind mehrere Namen und Jahreszahlen falsch geschrieben. Der 1931 gestorben Vater von Nehru soll 1947-67 Präsident von Indien gewesen sein. Karl-Heinz Böhm wird bezeichnenderweise als „Schauspieler (Sissi-Filme“)“ angeführt, nicht mit seinem Hilfswerk Menschen für Menschen.

Wenn man ein Fazit ziehen wollte, könnte man kalauern, dieses Buch sei ein „Schaf im Wolfspelz“. Es macht niemandem Angst.


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