Gerd Scherm: Die poetische Kabbala 1

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Die poetische Kabbala Teil 1

Quelle: Von Gerd Scherm http://www.scherm.de/index.php?option=com_content&task=view&id=68&Itemid=99999999


Die Tür öffnet sich

Wenn man sich dem Gedankengebäude der Kabbala nähern will, sieht man sich erst einmal einem Trümmerfeld von Vorurteilen, Halbwahrheiten, Verfälschungen, bewussten Irreführungen, Wahrheitssplittern und echter Mystik gegenüber. Es dauert einige Zeit, bis man durch dieses Gestrüpp das Gebäude selbst erreicht. Und wenn man dort ist und beginnt, in dem Gebäude zu forschen und zu suchen, findet man so viele Türen, dass einem das Gefühl beschleicht, ein Menschenleben reicht nicht aus, sie alle zu öffnen. Doch es gibt einen Trost.

Gershom Scholem, der wohl beste Kenner kabbalistischer Traditionen im 20. Jahrhundert, schrieb in seinem Werk „Zur Kabbala und ihrer Symbolik“: „So etwas wie die Lehre der Kabbalisten gibt es nicht“. (1) Jede und jeder muss hier seinen eigenen, ganz persönlichen Weg finden. Das heißt nicht, dass der Beliebigkeit Tür und Tor geöffnet ist. Wenn man sich einmal die Grundzüge erarbeitet hat, wird einem vielmehr die Entscheidung abverlangt, welche Schwerpunkte man für sich selbst setzen will. Es ist wie in anderen Wissensgebieten auch, ob Physik, Literatur oder Philosophie, nach einer gewissen Zeit entdeckt man seine Vorlieben und Stärken. Aus diesem Grund sind auch meine Ausführungen natürlicherweise beschränkt. Beschränkt durch den Umfang, den eine solche Betrachtung nicht überschreiten sollte und beschränkt durch meine subjektiv ausgewählten Aspekte zum Thema.

Die Kabbala, wörtlich Überlieferung, bildet zwar die Grundlage eines Zweigs der jüdischen Mystik, ist aber auch Basis der christlichen Mystik, sowie der Astrologie, des Tarot und der Zahlenmystik. Die rituelle magische Arbeit fußt ebenso in ihr wie die Grundanschauungen der Alchimisten. Mithin ist die Kabbala der Stoff, aus dem Legenden gewoben werden. So tragen die zehn Kapitel in Umberto Eccos Roman „Das Foucaultsche Pendel“ die Namen der zehn kabbalistischen Sphären von Kether bis Malkuth als Titel.

Der berühmte Golem des Prager Rabbi Juda Löw ben Bezalel ist ein kabbalistisches Geschöpf, das sowohl in die Volkslegenden Eingang gefunden hat, wie auch in die Literatur – von Jakob Grimm über Achim von Arnim und E. Th. A. Hoffmann bis Gustav Meyrink. Berühmte wie berüchtigte Magier wie Eliphas Levi, Madame Blavatsky, Aleister Crowley und der „Order of the Golden Dawn“ oder Dion Fortune und ihr „Circle of the Inner Light“ beriefen sich stets und immer wieder auf die Kabbala. Und im Zuge der Esoterik-Welle, die man eher als Esoterik-Schwemme bezeichnen sollte, nimmt die Zahl ernsthafter, aber leider vor allem oberflächlicher Werke zu diesem Thema fast monatlich zu.

Die Kabbala ist ein ebenso interessantes wie gefährliches Fahrwasser und eine sichere Möglichkeit, seinen Ruf als klardenkender, ernsthafter Mensch loszuwerden. Sie ist so vielfältig, so vielgestaltig, dass darin eine riesige Gefahr liegt, sich in Okkultismus und ähnlichem zu verlieren. Sie bietet aber auch eine große Chance, mittels eines komplexen Symbolsystems ganzheitliche Zusammenhänge zu erfassen und Mythos und Logos miteinander zu versöhnen. Die Kabbala ist nicht abgeschlossen, sondern der lebendige Archetypus und seine vitale Modifikation gleichermaßen. Sie ist ein kulturelles Erbe der gesamten Menschheit, nicht nur des jüdischen Volkes, dem wir diese Überlieferung verdanken. Sie ist ein Erbe, das unabhängig von Religion, Zeit und Raum erfahrbar und erlebbar ist.

Fußnoten:

(1) „Zur Kabbala und ihrer Symbolik", Gershom Scholem, Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1973

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