Rezension: Björn Theis: Diskretion und Diffamie

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Björn Theis: Diskretion und Diffamie

Rezension von Roland Müller

Eine verpasste ethnologische Chance

Björn Theis: Diskretion und Diffamie. Innensicht und Fremdbild am Beispiel der Freimaurerei. Magisterarbeit. Köln: Institut für Völkerkunde 2006 (Kölner Ethnologische Beiträge, Heft 20); Saarbrücken: VDM Verlag Dr. Müller 2010.

(Die Seitenangaben beziehen sich auf die Ausgabe 2006.)

Zum Autor: http://www.digitalcultures.de/?page_id=10

Eine kurze ethnologische Studie

Diese Studie eines angehenden Ethnologen umfasst 78 Textseiten. Er hat sich ein hochinteressantes Thema vorgenommen, es jedoch fachlich und sachlich nicht bewältigt. Björn Theis findet es bemerkenswert, dass die Freimaurerei dreihundert Jahre überlebt hat, obwohl in dieser langen Zeit „weitreichende gesellschaftliche Veränderungen“ stattgefunden haben und sie „auch der Diffamie von verschiedenen Gruppen ausgeliefert war“ (12).

Zuerst muss er jedoch die ethnologisch wichtigen Begriffe Distinktion und Demarkation erklären; „Während die Distinktion eine Differenz zu anderen Gruppen markiert, indem sie eine eigene Einheit schafft, sollen Phänomene der Demarkation diese so gewonnene Differenz erhalten“ (15). Das Wort „Diskretion“ kommt im gesamten Text nirgends vor.

Als Kontrast zur knappen, leider sehr ungenauen Skizze der allgemeinen Geschichte der Freimaurerei bis zum negativen Urteil des heutigen Papstes Benedikt XVI. schildert Theis die Entwicklung der Freimaurerei in Deutschland seit 1727 unnötig detailliert (23-28).

Der freimaurerische Symbol-Kosmos in der Endosphäre

Gerne benützt der angehende Ethnologe das Wort „emisch“. Es steht nicht im gewöhnlichen Duden. Die „emische Perzeption“ der maurerischen Symbole heisst offenbar: Wie die Maurer selber die Symbole sehen.

Um 1700 war die Symbolik noch nicht sehr reichhaltig.

„Erst als sich der Wunsch nach Vergeistigung und Mysthizismus in der Mitte des 18. Jahrhunderts ausprägte, wuchs das Symbol-Gebäude der Freimaurer und schuf damit ein sehr dichtes, auf sich selbst referrierendes, symbolisches Netz von Symbolen. Die Logen haben seit ihrer Entstehung Symbole genutzt, um den abstrakten Inhalt ihres Wertesystems zu veranschaulichen“ (28-29; ähnl. 40).

Eine Darstellung des mannigfaltigen Symbol-Kosmos belegt ein Gemälde von viereinhalb auf drei Meter im Bankettsaal des Kölner Logenhauses, in welchen auch die Loge „Ver Sacrum“ arbeitet, welche dem Autor Zutritt gestattet und Auskunft gegeben hat.

„Es vermittelt durch die Abbildung der Symbole all die Analogien, die die Endosphäre der freimaurerischen Kultur konstituieren. Dabei werden die Symbole als Weg und Mittel zum Erreichen der geistigen Vervollkommnung angesehen“ (30).

Anhand eines Aufsatzes des Freimaurers Alfried Lehner beschreibt Theis, ohne grosse Verständnis, die Symbole Zirkel und Winkelmass. Für die weiteren Symbole wie Senkblei, Wasserwaage und Vierundzwanzigzölliger Massstab stützt er sich auf das „Internationale Freimaurer-Lexikon“ von Eugen Lennhoff, Oskar Posner und Dieter Binder (2000). Die Beschreibung der drei grossen und drei kleinen Lichter sowie des Tempels ist korrekt.

Welches die distinktiven und demarkierenden Elemente des Tempels sind, wird nicht klar. Theis schreibt:

„Der Tempel ist ein Symbol, „wobei das Gebäude selbst die gesamte Endosphäre der freimaurerischen Lebenswelt umfasst. Seine Mauern sind die Grenzen zwischen ihrer Endo- und der Exosphäre. Der Tempel ist der sakraler Bau, in dem Arbeit für ein höheres Ziel vollbracht wird. Das nötige Werkzeug zum Erreichen dieses Ziels liefert das Symbol gleich mit. Durch das hohe allegorische Potenzial des Symbols ist der Freimaurer schnell an sämtliche Objekte der Werksymbolik erinnert, die wieder Allegorien zu anknüpfenden Symbolen bilden. So beinhaltet jedes einzelne Symbol eine Vielzahl von Bedeutungen und kann allegorisch in Verbindung mit weiteren Symbolen interpretiert werden“ (38).

Die Rituale: Seklusion und Transition – Separation und Inkooperation

Theis behauptet, in England herrsche Ritualfreiheit und in Deutschland seien acht Ritualsysteme in Gebrauch. Die Beschreibung des Rituals der Loge „Ver Sacrum“ ist konfus (40-62). Es darf bezweifelt werden, dass bereits bei der Vorbereitung auf die Initiation den Profanen „alle distinktiven Merkmale gelehrt werden, die den angehenden Maurer vom Nicht-Maurer unterscheidet“ (42; ähnl. 47).
Viele ärgerliche Ungenauigkeiten folgen. Es wäre sinnvoll gewesen, Theis hätte z. B. das Buch von Dieter A. Binder über die Freimaurerei (1988 und öfters) genauer gelesen.

Bemerkenswert ist der Ethnologenjargon.

Die Einschliessung des Initianten in die „Dunkle Kammer“ kann „als Vorbereitung für die folgende liminale Phase im Übergang aus der ‚profanen’ Welt in die geistige Welt der Johannismaurerei aufgefasst werden … Diese Phase der Seklusion trägt stark demarkierende Elemente. Auch das vom Neophyten verlangte Beantworten der Fragen kann als demarkierendes Element gedeutet werden … Eines der stärksten demarkierenden Elemente ist aber die Finstere Kammer selber“ (48).

Hernach folgt die Transition.

Das Individuum ist nun „liminal“; es befindet sich „in keiner festen Sozialstruktur, vielmehr in einer Anti-Struktur. Sie ist gegensätzlich, da der Status des Subjekt bewusst ambig gehalten wird: im Zustand der Liminalität sind die Grenzen und Gesetzte der bekannten Sozialstruktur ausser Kraft gesetzt, um neue zu errichten zu können“ (49).

Eine weiter Phase ist die Separation: Der Initiant entledigt sich „von seinem Geld, seinen Hausschlüssel, sowie seinem Ehering symbolisch“ (51). Diese ritualisierte Handlung trägt „ein stark distinktives Element“ (52).
In einem Wechselgespräch muss der Initiant gewisse Fragen des Meisters vom Stuhl beantworten. Dies tut er mehrfach. „So ist die Rezitation der Beitritts-Absichten die freiwillige Akzeptanz der freimaurerischen Gesetze affirmativ und demarkierend“ (54).

Das Gelöbnis, das der Neophyt ablegen muss, enthält „distinktive und demarkierende Bestandteile“ und hat erst noch eine „judikative Dimension“ (58): Nach der Lichtgebung, bei der oft das Bruderlied gesungen wird, kommt die Phase der Inkooperation (61: Inkorporation). Der initiierte Bruder darf nun in die Bruderkette eintreten (61). Ferner erhält er zwei paar weisse Handschuhe, eines führ ihn selbst ein anderes für das „Frauenzimmer“, für welches er die grösste Achtung hegt. Auch hier darf bezweifelt werden, ob heute noch von „Frauenzimmer“ gesprochen und gewarnt wird, dass die Handschuhe „nie unreine oder Hurenarme bekleiden“ dürfen (61). (Diese Formulierungen stammen aus einem böhmischen Ritual von 1760.)

Bijou und Maurerschurz als Verstärker von Demarkation und Distinktion

Auf die Symbolik der Handschuhe geht Theis noch detaillierter ein (63) und beschreibt im Nachgang noch zwei weiter Symbole: das Bijou und den Schurz (64: die Schürze).

„Maurerschurz sowie Bijou wirken im Kontext der Ritualkleidung als Verstärker: Der schwarze Anzug samt der weissen Handschuhe schafft bereits eine erste Demarkation.“ Schurz und Bijou berechtigen den Bruder zur Teilnahme am Ritual. „Beides hat der Freimaurer erst nach seiner Initiation erhalten, in dem Moment also, in dem er sich bewusst entschieden hat, Freimaurer zu sein. So drückt sich im Anlegen der beiden Kleidungsstücke das freimaurerische Selbstbildnis aus – Schurz und Bijou dienen hier als Gegenstand der Distinktion“ (66).

Weiter mit Schauspiel und sozialer Demarkation

Nach einer Analogisierung des Rituals mit einem Schauspiel folgen wieder Erläuterungen von Distinktion und Demarkation.

„Gegenstand der rituellen Praktiken ist das Erlernen und die Auseinandersetzung mit der freimaurerischen Symbolik … Im Ritual erleben die Freimaurer ihre geistige Lebenswelt durch die verstofflichten Symbole, in Form von Gegenständen, Handlungen oder Sprachakten. Durch diese Performance konstituiert sich die Lebenswelt, denn ohne Handlungen könnte eine solche nicht bestehen … So werden beim symbolischen Tempelbau auch die Mauern errichtet, die die freimaurerische Lebenswelt von der bürgerlichen trennen. Im Ritual erlernen die Logenmitglieder den Symbol-Kosmos als in ihm handelnde Akteure kennen. Durch diese persönlichen Handlungsräume werden eigene Erfahrungen und Interpretationen mit den einzelnen im Ritual verwendeten Symbolen verknüpft“ (69).

Speziell eine soziale Demarkation erfolgt, indem sich die Freimaurer als Eingeweihte gegenüber „Profanen“ bezeichnen (71) und sich die Freimaurerei von der Religion abgrenzt, indem sie es unterlässt, „den Glauben an Gott in Sinne eines religiösen Systems zu definieren. Auch umfasse der Inhalt der Freimaurerei keine Jenseitsvorstellung“ (72). Die Tempelarbeit ist nur eine „kultische Handlung“, keine religiöse.

Das Geheimnis provoziert Verschwörungstheorien

Wie eine angehängte Pflichtübung wirken die Ausführungen über das „Geheimnis“. Hier werden plötzlich Max Weber und Georg Simmel (1908) zitiert.
Das Geheimnis besitzt „eine integrative Funktion, indem es die Gemeinschaft der ‚Wissenden’ durch eine Erhöhung des eigenen Selbstwertes steigert. Diese Steigerung des Gruppenstatus wird besonders durch das Bewusstsein darüber hergestellt, ’[…] dass andere ihn entbehren müssen.’ (Simmel) Geheimnisse dienen somit nach Hahn als ’Gruppengenerator’ (Hahn) und verleihen nach Simmel der ’Persönlichkeit eine Ausnahmestellung’ (Simmel).
Gleichzeitig entsteht so bei der Outgroup das Gefühl, dass es sich bei dem, was sie zu entbehren habe, um etwas Geheimnisvolles, Wertvolles oder Bedrohliches oder Erstrebenswertes handeln müsse“ (76-77).

Bedeutsam, aber von Theis nicht weiter verfolgt, ist, dass es sich bei dem Geheimnisvollen nicht unbedingt um etwas Bedrohliches handeln muss; es könnte auch wertvoll oder erstrebenswert sein. Nur im ersteren Fall entstehen Verschwörungstheorien.
Diese werden noch gefördert durch eine zweite Eigenheit in der Loge: die „intransparente“ oder „paradoxe Kommunikation“ (Luhmann), resp. die „rituell geübte Verschwiegenheit“ (Luhmann und Fuchs). d. h. die Freimaurer können untereinander vertrauensvolle über private Dinge sprechen. „Man denke an die Schweigepflicht bei Ärzten oder Priestern, deren Gelübte an die Verschwiegenheit erst ermöglicht, über bestimmte, prekäre Bereiche zu reden“ (77; vgl. 81, 87).

Das veranlasst manche Aussenstehende, an ein zentrales und verborgenes Steuersystem zu glauben:

„Diese Annahme einer zentralen Steuerung liefert die Grundlage sämtlicher Verschwörungstheorien. Dabei sind die Verschwörer immer so mächtig, dass sie keinerlei Spuren ihrer Existenz hinterlassen. Dabei wird das vollkommene Fehlen empirischer Beweise gerade als Beweis der Macht der Verschwörer gesehen. Aus diesem Glauben an die Allmacht der Verschwörer entspringt auch die Resistenz der Verschwörungstheorien gegenüber vermeintlichen Widersprüchen. Wer nicht an die Theorien glaubt, ist entweder unwissend oder Mitverschwörer.
Somit wird es letzendlich unmöglich, ein verschwörungstheoretisches Weltbild zu widerlegen. Jedes mögliche Faktum, das die Konspiration widerlegen würde, wird in das verschwörerische Weltbild integriert und im Kontext der angenommen Verschwörung umgedeutet“ (79).

Theis erwähnt kurz Jan van Helsing, dessen „Abwegigkeit seiner Hypothesen kaum zu überbieten ist“ (79), Adolf Hitler und die katholischen Kirche, etwas ausführlicher „Die Protokolle der Weisen von Zion“. Bereits viel früher hatte er das „aggressive Verhalten“ der katholischen Kirche (21-22; vgl. 73) und Erich Ludendorff (24-25) zitiert.

Eine Öffnung bedroht die Gruppenidentität

Was wäre dagegen zu unternehmen? Der angehende Ethnologe schlägt vor:

„Der Diffamie durch Verschwörungstheorien zu begegnen würde es grosse Opfer fordern: die Türen der Logenhäuser und der Tempelräume müssten geöffnet, und die aktuellen Ritualtexte sowie Mitgliederlisten veröffentlicht werden.
Aber was bleibt dann von der Freimaurerei?“ (86).

Theis sieht klar:

Heute „ist die Freimaurerei einem doppelten Risiko ausgesetzt. Dem Risiko des Redens und dem Risiko des Schweigens. Öffnen die Freimaurer sämtliche tabuisierten Bereiche, droht ein Verlust der Gruppenidentität, da der ’sakrale’ Raum der ’profanen’ Öffentlichkeit preisgegeben wird. Schweigen die Logen, kann mit weiterer Diffamie und weiteren Anfeindungen gerechnet werden.
Es zeigt sich also, dass sich Distinktion und Diffamie gegenseitig bedingen, insbesondere, wenn das Eigenbild einer Gruppe tabuisierte Bereiche umfasst, die der Outgroup nicht mitgeteilt werden können“ (88).

Viele Fehler

Abgesehen von den vielen Fehlern in der Darstellung der Rituale fallen viele weitere auf: Unrichtig ist die Angabe, dass in der Schweizer Freimaurer-Rundschau „Alpina“ im Januar 2005 der „Volltext der Konstitution Andersons“ abgedruckt sei (18) und dass zwei Monate später im Aufsatz „Die Legenden der königlichen Kunst“ etwas von der „Geschichte der Freimaurerei in Deutschland“ (25) stehe.
Der Begriff „freemason“ erscheint erstmalig 1376 nicht als Bezeichnung einer Steinmetzgilde in London (19), sondern für zwei einzelne Maurer (Knoop/ Jones, 1968, 10). Einer der ersten Adeligen in den Logen war der Herzog von Montagu, nicht „Montangu“ (20), usw.
Die päpstliche Bulle „Providas“ folgte nicht zwei Jahre nach „In Eminenti“ (21), sondern 13 Jahre später.
Die 1949 gegründete „Vereinigte Grossloge [der Freimaurer] von Deutschland“ besteht heute noch; sie wurde nicht „später umbenannt“ in die „Vereinigte Grossloge Alter Freier und Angenommener Maurer von Deutschland“ (26), sondern bloss in den Plural gesetzt:
http://www.freimaurer.org/
Keine Freimaurer waren Balzac, Danton und Nobel (28).
Bei den „Collegia Fabrorum“ phantasiert Theis eine Beschreibung bei Lennhoff, Posner, Binder (19); auch der zweite Eid (57) stammt nicht von dort - Theis hat die Quellenangaben vertauscht. Die daselbst gegebene Deutung des Winkelmasses, zitiert nach Lehner (33), stammt ebenfalls nicht von den Verfassern des Lexikons, sondern von Robert Fischer (um 1870).

Falsch sind die Quellenangaben, dem „Internationalen Freimaurer-Lexikon“ könnten Aufschlüsse entnommen werden:
für das Gründungsdatum, 24. Juni 1717, unter: „Johannisfreimaurerei“ (20; das Stichwort heisst bloss “Johannismaurerei“);
für die 1741 in Frankfurt am Main gegründete Loge „L’Union“ unter: „Hochgrade“ (23);
für die „Drei Kleinen Lichter“ unter: „Systeme“ (35);
für den „unüberschaubaren Symbolkosmos“ unter: „Kugelung“ (40);
für die Bezeichnung „freier Mann“ unter: „Reisen“ (52);
für die Zauberflöte, Mozart und Schikaneder unter: „Blau“ (55);
für die Farbe Blau unter: „Rose“ (66).

Von Tippfehlern und sprachlichen Fehlern soll hier nicht die Rede sein. Einiges kann den Zitaten entnommen werden.

Fazit: unzusammenhängend und betrüblich ungenau

Ein guter Ansatz wurde vertan! Die Ausführungen sind unzusammenhängend und lassen ein Verständnis des Untersuchungsobjekts vermissen. Der Autor ist betrüblich ungenau in der Handhabung von Begriffen und Zitaten.
Notwendig wäre nicht nur viel mehr Präzision, sondern auch Detaillierung. Gewünscht wäre das Aufdecken von Zusammenhängen, etwa: Welche Elemente genau sind distinktiv, welche demarkierend? Welche Geheimnisse rufen welche Diffamierungen hervor? Worauf richten sich die Diffamierungen?

Die überaus umfangreichen Anhänge (die „Alten Pflichten“ von 1723 im Faksimile auf Englisch sowie die Päpstliche Bulle „In Eminenti“ von 1738 auf Lateinisch und Englisch) sind entbehrlich, denn sie tragen gar nichts zur Sache bei.

Es wäre nicht nötig gewesen, diese Studie auch im Buchhandel herauszugeben. Der stolze Preis von Fr. 86.- entspricht in keiner Weise dem Inhalt.

Siehe auch


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