Rezension: Tobias Churton - Freemasonry: Unterschied zwischen den Versionen
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Version vom 13. Mai 2010, 19:05 Uhr
Inhaltsverzeichnis
Was wissen wir wirklich über die Freimaurerei?
Rezension von Br Roland Müller
Tobias Churton: Freemasonry. The Reality. Hersham, Surrey: Lewis Masonic 2007.
Tobias Churton hat in Oxford Theologie studiert. Er war 1997 Mitbegründer und die ersten drei Jahre Chefredakteur der angesehenen englischen Zeitschrift „Freemasonry Today“. Er ist Autor, Komponist und Filmemacher, der unter anderem über die Gnosis und die Rosenkreuzer publiziert hat. Seit 2005 liest er an der Universität Exeter über Freimaurerei. Wissbegierige Studenten haben ihn dazu gebracht, sich intensiv mit der Geschichte der Freimaurerei zu befassen und zu versuchen, die (legendäre) Spreu vom Weizen zu trennen. „Die Studenten erwarten Objektivität, Fairness und ein bisschen Humor“ (xviii).
Auf 450 Seiten erfüllt Churton diese Erwartungen. Seine Ausführungen lassen einen milden Humor erkennen. So formuliert er etwa nach der anschaulichen Schilderung der heutigen Rituale der ersten drei Grade: „Was ein unvoreingenommener Betrachter der Ausstattung des Tempels sieht, könnte ihn veranlassen, an die ordentlich angeordneten Überbleibsel eines ‚Cargo Kults’ zu denken“ (48).
Mittelalterliche Comics: die „Old Charges“
Nach einer historisch informativen Schilderung der wichtigsten Symbole – beispielsweise die zwei Säulen, die grossen und kleinen Lichter – wendet sich Churton der Herkunft der Freimaurerei zu. Im Unterschied zu andern Autoren, die sich über die Legenden in den „Old Charges“ lustig machen, nimmt er sie ernst, auch wenn er eine humorvolle Beschreibung von ihnen gibt: „Sie sind so etwas wie Comics, so farbig und dynamisch im Wechsel von einer dramatischen Szene zur nächsten. Es sind mit Worten gewobene Wandteppiche, geschrieben für Leute die es gewohnt waren, von einem symbolischen Fixpunkt zu nächsten zu gehen“ (100-101). Demzufolge analysiert und erläutert Churton mit viel Liebe das Regius Poem (1390), die Londoner Ordinances von 1356 und das Cooke Manuskript (1420).
Dass er gerne etwas abschweift, verleitet einen zum Schmunzeln, denn dabei werden seine Schilderungen richtig blumig. Ein Paradestück in dieser Hinsicht ist die Beschreibung der „Heiligen Kapelle von Johannes“ aus einem Sloane Manuskript, wo die erste Loge stattgefunden haben soll (140-145). Churton hält diese Bezeichnung für einen mittelalterlichen Scherz; gemeint ist die „Wildnis – die tiefsten Täler und die höchsten Berge – wo man Gott am nächsten ist“. Zur Legende der Abstammung der Freimaurerei von den Templern (145-151) meint er sarkastisch: „Es ist schwer sich vorzustellen, dass ein Ritter sein breites Schwert gegen eine Maurerkelle eingetauscht und dann erklärt hat: ‚Letztes Jahr kämpfte ich gegen die Sarazenen, dieses Jahr baue ich an Westminster Abbey. Das ist doch ein tolles Leben!’“
Solche und viele andere Formulierungen machen die Lektüre des dicken Buches zu einem Vergnügen. Vermutlich aber werden das nur Freimaurer so empfinden, denn Churton stellt die Un- und Halbwissenden, welche so gerne Legenden und Verschwörungstheorien anhängen, mit deutlichen, manchmal bissigen Worten bloss.
Fakten zur Entstehung und Ausbreitung der Freimaurerei
Manchmal ist der Autor aber auch zu ausführlich. Volle 100 Seiten widmet er der Zeit von etwa 1600 bis 1700: Hier ist Churton in seinem Element. Er untersucht die Bedeutung der „angenommenen“ Freimaurerei in England (z. B. Robert Moray, Elias Ashmole und Randle Holme) und den möglichen Einfluss der Rosenkreuzer. Akribisch zerpflückt er David Stevensons Behauptung von 1988, die moderne Freimaurerei habe in Schottland begonnen (Schaw Statuten, Freibriefe für die Herren von Rosslin, Loge von Kilwinning). Genüsslich enthüllt er auch, wie der „Rosslyn Hoax“ entstanden ist und sich ausgebreitet hat („It’s a vast tissue of lies: incomplete and utter rubbish“, 234). Fast so ausführlich – 60 Seiten - beleuchtete er die Vorgänge um die Gründung der Londoner Grossloge 1716-17 und Andersons Ausarbeitung der „Constitutions“ sowie das damalige politische und gesellschaftliche Umfeld.
Schade, dass der Autor die deutschsprachige Literatur nicht kennt. Dann hätte er darauf hinweisen können, dass der deutsche Forscher Wilhelm Begemann schon vor genau 100 Jahren in drei gewichtigen Bänden die „Vorgeschichte und Anfänge der Freimaurerei in England“ sowie in Schottland aufs Genaueste dokumentiert und analysiert hat.
Eher als Pflichtübung für Churton mutet das letzte Drittel des umfangreichen Werkes an. Es bietet eine knappe, aber doch detaillierte Skizzierung der Ausbreitung der Freimaurerei in Europa und der übrigen Welt (313-376). Besonderes Augenmerk wird auf die Strikte Observanz und den Rektifizierten Schottischen Ritus sowie die „modernen“ Rosenkreuzer des 18. Jahrhunderts (in Deutschland, Polen und Russland) gerichtet. Völlig ausgeblendet wird das 19. Jahrhundert. Dafür erfährt man manches über Logen im ehemaligen Ostblock nach dem Fall der Berliner Mauer, hernach über die Freimaurerei im Nahen Osten, in der Karibik und in den USA.
[Hoch- und Seitengrade, Religion und Esoterik, das heutige England] Die nächste Exkursion führt zu den Hochgraden, von denen der Royal Arch am ausführlichsten besprochen wird (380-392); Eine Vielzahl von „additional orders“ in England wird kurz gestreift, und noch kürzer fallen die Angaben über den Droit Humain und die englischen Frauenlogen aus. Churton behauptet, es gäbe viel mehr Freimaurerinnen, wenn die Tatsache einer weiblichen Maurerei bekannter wäre. Aber die Freimaurerinnen betrieben keine Öffentlichkeitsarbeit, sie „konzentrierten sich lieber auf die Freimaurerei“ (404).
Die Abrundung des ungemein informativen Werks bildet ein Kunterbunt. Dass die Freimaurerei keine Religion darstellt, ist bekannt. Churton präzisiert: „Freimaurerei ist zwar religiös, aber absolut nichtkonfessionell“ (411). Das mag manche Freimaurer selber schockieren, genauso wie die „engen Verbindungen zu den esoterischen Traditionen“ (415). Es ist bemühend zu sehen, wie sich Churton um eine präzise und aktuelle Lagebeurteilung bemüht und mit vielerlei Argumenten versucht, die Beziehungen der Freimaurerei zur katholischen, methodistischen und anglikanischen Kirche zu klären. Dabei nimmt er auch diesbezügliche Verlautbarungen der „United Grand Lodge of England“ kritisch ins Visier (418-432; siehe auch 448-451) und erkennt: „Tatsächlich funktioniert die UGLE wie der Vatikan“ (431), sie verteidigt orthodoxe Positionen.
„Freemasonry Tomorrow“
Unter dem Titel „Freemasonry Tomorrow“ werden schliesslich die öffentlichen Querelen in England unter der Labor-Regierung (seit 1997) über die Freimaurerei ausgebreitet und im Kontrast dazu die Verhärtung der Administration der englischen Freimaurerei selbst (440-457). Der Autor schliesst mit dem Aufruf: „Die Freimaurerei muss sich weiter entwickeln und anpassen, wie alles Lebendige!“ (456).
Fazit: hervorragender Text, verlochte Bilder
Tobias Churton hat in eindrücklicher Weise nicht nur die „wirkliche“ Geschichte der Freimaurerei aufgerollt, sondern sie auch in den unterschiedlichsten Belangen in die Gegenwart gestellt. Er bietet gleichermassen Informationen wie Anstösse zum Nachdenken, egal ob für Freimaurer selber oder für „Profane“.
Bedauerlich ist, dass die 74 interessanten Abbildungen (darunter 32 Arbeitstafeln resp. Tapis) in einem separaten Mittelteil zusammengepfercht sind. Wenn Sie verstreut platziert worden wären, hätte das den Band merklich aufgelockert. Doch die meisten Bilder sind im Text nirgends erwähnt. So bleiben sie unbeachtet.
Eine Übersetzung dieses Werks ins Deutsche würde für die deutschsprachige Freimaurerei eine Bereicherung bedeuten.
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