Traktat: Die Relevanz des Rituals

Quelle/Autor: Philipp Gerlach
Meine Zeichnung befasst sich mit der Bedeutung von Ritualen und Symbolen in der modernen Gesellschaft. Im Speziellen beleuchte ich die Funktion von Ritualen und thematisiere die Folgen des derzeitigen "Ritualsterbens". Dieses Phänomen führt zu einem zunehmenden Unverständnis von Symbolen und letztlich zu Entfremdungserfahrungen.
Ritualsterben
In der jüngsten Vergangenheit zeichnet sich ein tiefgreifender und nie dagewesener Wandel unserer Gesellschaft, ja der gesamten Welt ab. Wir sind sowohl Zeugen als auch Verursacher dieses historischen Umbruchs. Zu den Phänomenen dieses Umbruchs zählen beispielsweise die rasante Entwicklung von Technologien (von der Dampfmaschine zur Digitalisierung), die zunehmende Vernetzung (von der Postkutsche zur Globalisierung) und der Wandel der Biosphäre (Artensterben und Bevölkerungsexplosion). Wohin diese Entwicklungen uns führen, ist ungewiss. Fest steht jedoch, dass wir mit keiner Gewissheit mehr rechnen können. Die neue Normalität wurde daher als volatil, ungewiss, komplex und mehrdeutig (VUCA) beschrieben – oder gar als brüchig, ängstigend, nichtlinear und unverständlich (BANI). Nicht alle Aspekte dieser Entwicklung sind negativ zu bewerten. Manche Trends haben sogar die kühnsten Hoffnungen der größten Optimisten übertroffen: Die rasante Steigerung des Wohlstands, die Stärkung der Minderheitenrechte, die hohe Alphabetisierungsrate und die gestiegene Lebenserwartung bei gleichzeitig gesunkener Mordrate sind nur einige Beispiele positiver Entwicklungen.1
Doch jeder Wandel hat seinen Preis. Rapide, tiefgreifende Veränderungen erfordern Anpassungen. Schon in der Bibel (Psalm 30,5) heißt es: "Für den einen ist es die Zeit der Segnung, für den anderen die Zeit der Not. Für den einen ist es die Zeit des Aufbaus, für den anderen die Zeit des Zerfalls." Das gilt insbesondere, wenn sich der Wandel innerhalb von Generationen und nicht nur zwischen Generationen vollzieht. Jeder Einzelne von uns spürt die Veränderungen. Die Welt ist nicht mehr die gleiche wie vor 20 oder gar 40 Jahren. So mancher hat mit dem rapiden Wandel seine Schwierigkeiten, wie die Friktionen einer tief gespaltenen Gesellschaft zeigen. Denn der tiefgreifende Wandel bedeutet den Abschied von Gewohnheiten und die Verschiebung von Maßstäben, die uns lange Zeit als Orientierungsmittel dienten.
Auf online Plattformen bilden sich aus Schwärmen digitaler Gefolgschaften neue Stammesgesellschaften heran. Gesundheit, Bildung und Politik geraten zunehmend in ihren Sog. Doch diese Gesellschaften scheinen aufgrund ihrer Verortung im Digitalen, ihrer Dynamik und der Vertretung von Partikularinteressen wenig verbindende Kraft für das Gemeinwesen zu haben. Gleichzeitig schwinden die Bindungskräfte analoger Gemeinschaften. Traditionen, Familien, Parteien, Verbände und Staaten verlieren an einigender Kraft.
Mit diesen Entwicklungen geht jedenfalls ein Massensterben von Ritualen einher.
Die Bedeutung von Ritualen
Rituale sind nach bestimmten Regeln ablaufende, meist formelle oder gar festliche Handlungen mit hohem Symbolgehalt. Sie werden von einer Gruppe ausgeübt, die sich oft zu just diesem Zweck trifft. Meist tragen die Ausführenden dafür spezielle Kleidung, anhand derer bestimmte Rollen für das Ritual erkennbar sind. Diese Rollen schreiben konkrete Handlungsabläufe und Wortformeln vor. Auch die Zuschauer sind oft speziell gekleidet. Ihre Kostümierung zeigt an, dass sie dem Ritual beiwohnen und die Handlungen nun in einem spezifischen Rahmen deuten, z.B. in einem symbolischen Rahmen mit entsprechenden Emotionen. Wir spielen also nicht nur Theater, sondern empfinden das Schauspiel als real in seinen Konsequenzen für Leib und Seele.2
Wir verbinden Rituale oft mit Zeremonien, insbesondere mit religiösen Festen wie Taufe, Kommunion, Hochzeiten und Beerdigungen, aber auch dem üblichen Gottesdienst. Es gibt aber auch säkulare Rituale, wie Abiturfeiern, Staatsfeiern, Geburtstagsfeiern oder Abschiedsfeiern. Auch wir Freimaurer kennen unsere Rituale, wie Tempelarbeiten, Tafellogen, Kerzengespräche und so weiter. Rituale erfüllen dabei gleich mehrere Funktionen für die Beteiligten.
- Rituale bieten durch ihre immer wiederkehrende Struktur Orientierung und Halt für einen definierten Zeitraum. In diesem Sinne sprechen sie dafür, dass sich eben doch nicht alles wandelt, wie Geburt, Liebe und Tod — oder eben die menschliche Suche nach Sinn.
- Innerhalb dieser geordneten Struktur können sich die Beteiligten der Besinnlichkeit widmen, also der Kontemplation, der meditativen Einkehr. Rituale bieten also einen Rahmen, um in sich zu gehen.
- Dieser Rahmen bietet auch eine gemeinschaftliche Form, Gefühle zu erfahren, zu verarbeiten und auszudrücken. Rituale helfen uns beispielsweise, Trauer, Freude, Wut oder Angst zu fokussieren, zu bewältigen und anderen sowie uns selbst zu zeigen. Eine wesentliche Folge ist, dass wir erfahren, in unserem Empfinden nicht allein zu sein.
- Oft entsteht durch diesen sozialen Raum ein Gefühl der Zugehörigkeit und Verbundenheit, mindestens für die Dauer des Rituals, oft aber auch darüber hinaus. Durch Rituale können also Beziehungen zu anderen Menschen, wie zu unserer Familie, zu unseren Freunden oder unserer Gemeinde, aufgebaut und erneuert werden.
- Insofern sozialisieren uns Rituale auch. Sie zeigen, welche Werte und Normen der Gemeinschaft wichtig sind und wie wir uns zu verhalten haben. So helfen Rituale den Beteiligten, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden, eine persönliche Identität aufzubauen und zu bekräftigen.
Kurzum, Rituale bieten vieles, womit wir in der Moderne zunehmend Schwierigkeiten zu haben scheinen. Rituale bieten uns eine Möglichkeit für
- Orientierung
- Besinnlichkeit
- Emotionsverarbeitung
- Gemeinschaftsgefühl und
- Identität.
Vor diesem Hintergrund mag es eigentlich überraschen, dass es in der Moderne zu einem Massensterben von Ritualen kommt. Rituale scheinen uns doch genau den Halt zu geben, der uns in Zeiten des Wandels zunehmend abhanden kommt. Vielleicht ist das Massensterben der Rituale auch einer der Gründe, wieso wir diesen Halt verlieren. Mit dem Wandel geht jedenfalls eine Entfremdung einher – eine Entfremdung von uns selbst, unserer Kultur und Geschichte. Dieser psychologische Effekt ist ein weiteres Massenphänomen des Wandels in der Moderne. Er hängt unmittelbar mit den verschiedenen Formen des Umbruchs zusammen, also mit dem Wandel in Technologie, Vernetzung, Biosphäre usw.
Entfremdung von der Tradition
Das Ritualsterben hat sicherlich mehrere Ursachen. Eine davon könnte sein, dass uns zunehmend der kulturelle Bezug zur Entschlüsselung der rituellen Symbole fehlt. Rituale entstammen oft einer langen kulturellen Tradition. Entsprechend erschließt sich ihre Bedeutung erst demjenigen, der ein gewisses kulturelles Verständnis mitbringt. Wer ihre Symbole nicht lesen kann, für den wirkt das Rituale verwirrend.
Ein Beispiel dafür sind die Ringe bei Hochzeitsfeiern. Ringe symbolisieren Treue, Liebe, Verbundenheit und Ewigkeit. Dadurch erfüllen sie eine wichtige kommunikative Funktion im Ritual, insbesondere beim Ringtausch. Dieser Akt inszeniert die Verbundenheit des Paares und "sagt mehr als 1.000 Worte".
Ähnlich verhält es sich bei uns Freimaurern. Nehmen wir mal das Entzünden der drei kleinen Lichter. Dieser Akt symbolisiert Werte, die uns wichtig sind: Weisheit, Stärke und Schönheit. Warum aber werden dazu drei Kerzen in einem Akt der Dramatik entzündet? Kerzen spenden Licht in der Dunkelheit und geben Individuen beispielsweise Orientierung und Hoffnung. Insofern können Weisheit, Stärke und Schönheit als Marker der Orientierung verstanden werden.
Symbole wie Kerzen sind also wahrnehmbare Zeichen, die abstrakte Vorstellungen manifestieren. Sie überführen Immaterielles in Gegenständliches und machen es erst dadurch begreifbar. In diesem Sinne wirkt das Symbol aufklärend. Es verdichtet eine Idee und bringt sie auf den Punkt. Gleichzeitig birgt das Symbol aber auch ein Moment der Verschleierung. Denn sein Sinn erschließt sich nur dem Kreis der Eingeweihten. Nichteingeweihten bleibt er verborgen. Fehlt es am kulturellen Hintergrundwissen, fühlt man sich dem Symbol —und damit auch dem Ritual— entfremdet. Das Ritual erscheint dann als mysteriöses Geschehen. Diese Erfahrung machen wir alle, wenn wir Zeugen von Feiern anderer Kulturen werden. Ähnlich erging es uns vielleicht auch bei unseren ersten freimaurerischen Tempelarbeiten.
Die Rolle der Symbole
Das Begriff Symbol stammt vom Altgriechischen συμβάλλειν = symballein, was so viel wie "zusammenfügen" bedeutet. Der Begriff wurde vermutlich einem antik-griechischen Brauch der Freundschaft entlehnt. Dabei zerbrach man eine kleine Holztafel in zwei Teile. Diese Hälften dienten dann als gegenseitiges Erkennungszeichen und Beweis des geschlossenen Bundes zwischen Freunden. Kehrte der Freund (oder ein Vertrauter des Freundes) in den Ort zurück, zeigte er seinen Teil der Holztafel vor. Passte dieser genau zum zurückgelassenen Teil, so wurde der Freundschaftsbund in anschaulicher und oft rührender Weise bestätigt und erneuert.
Symbole sind also mehr als bloße vereinbarte Zeichen. Sie verdichten komplexe Sachverhalte, Beziehungen und Ideen zu einem prägnanten Ausdruck. Dies geschieht auf eine Weise, die unsere Sinne, Gefühle und Ästhetik anspricht. Insofern ergänzen Symbole eine rein rationale Analyse, die zu Abstraktion neigt und die Gefahr birgt, menschliche Aspekte zu vernachlässigen. Symbole hingegen sprechen uns oft auf subtile Weise an. Sie wirken emotional, können persönlich verbindliche Aussagen beinhalten, sind Anreger zur Kontemplation und vieles mehr. In diesem Sinne beziehen Symbole und Rituale den Menschen in seiner Gesamtheit ein. Sie berücksichtigen, dass wir Menschen nicht nur Denkende, sondern auch Fühlende, Hörende und Riechende sind. Diese Seiten des Menschseins werden beispielsweise durch Berührungen, Klänge oder Düfte angesprochen. Gerade diese taktilen, auditiven und olfaktorischen Aspekte kommen in der modernen Welt, die sich stark auf das Sehen und Analysieren konzentriert, oft zu kurz. Sie können uns aber zurück zu unseren Ursprüngen des Menschseins bringen.
Die Freimaurerei weiß, dass Menschen zwar vernunftbegabt, aber keine reinen Vernunftswesen sind. Wir Freimaurer verstehen uns durchaus als aufgeklärt, vielleicht sogar als aufklärerisch. Gleichzeitig sind wir aber auch Bewahrer altertümlicher Rituale und ihrer Symbole. Das ist, wohlverstanden, kein Widerspruch, sondern vielmehr das Geheimnis der Freimaurerei, das sich nicht in Worte fassen lässt.
Darum schweige ich jetzt.
Fußnoten
1Gute Übersicht bei: Rosling, H. (2018). Factfulness: Ten Reasons we’re wrong about the World — and why Things are better than you think. Sceptre.
2 Diese Interpretation durch Kostümierung wurde sehr gut herausgearbeitet durch: Hochschild, A. R. (1983). The Managed Heart. Commercialization of Human Feeling. University of California Press. Damit das Schauspiel glaubhaft rüberkommt, ist es wichtig, dass die Teilnehmer nicht den Eindruck vermitteln, man schauspiele nur. Wenn z.B. die Teilnehmer über ihre Darstellung lachen und so würden sie den Eindruck vermitteln, dass es sich "nur um ein Spiel“ handele.
